Odenwald-Tauber. „Wir steuern in Baden-Württemberg auf eine Unterversorgung zu. Die Arztzeit sinkt. Wenn wir dafür keine Lösungen finden, wird die Versorgungsqualität leiden“, erklärt Jessica Rettig vom Hausärzteverband in Baden-Württemberg. Sie spricht damit ein Thema an, dass viele Menschen auch im Main-Tauber- und Neckar-Odenwald-Kreis bewegt. Denn sie erleben, dass immer mehr Hausärzte altersbedingt aufhören und die verbliebenen Praxen regelrecht überrannt werden.
87 Hausärzte im Main-Tauber-Kreis und 81 im Neckar-Odenwald-Kreis zählt der Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung mit Stand 2021 noch auf. Der Anteil der Über-60-Jährigen im Bereich „Hausärzte“ liegt im Landesschnitt bei 37 Prozent. Im Landkreis Main-Tauber sind es gar 41 Prozent. Im Neckar-Odenwald 40 Prozent – hier versorgte ein Hausarzt Anfang 2021 übrigens durchschnittlich 1774 Patienten. Damit lag man weit über dem Landesschnitt von 1573. Im Main-Tauber-Kreis kam man auf 1523 Patienten.
Um die Hausarztversorgung auch in Zukunft sicherzustellen, baut der Hausärzteverband laut Rettig auf „starke Praxisteams“. Der Hausarzt habe dabei die medizinische Verantwortung, könne jedoch Tätigkeiten an qualifiziertes Personal delegieren. Der Verband befürworte zum Beispiel die Akademisierung in den Praxen durch Versorgungsassistenten, lehnt aber private Investoren, „die in das Feld der Hausarztmedizin drängen“, ab. „Renditeorientierung geht zu Lasten einer qualitativ hochwertigen Versorgung der Patienten“, betont Rettig und wirbt für die Koordinationsfunktion der „Hausarztzentrierten Versorgung“.
Der Verband der Ersatzkassen (vdek) hat unterdessen das Modell der Regionalen Gesundheitszentren (RGZ) entwickelt, um die ärztliche Versorgungslage flächendeckend auch in Zukunft sicherstellen zu können. „Zwar gibt es bereits seit langem das Konstrukt der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Als Grundlage für eine Bündelung unterschiedlicher medizinischer Angebote haben sich die MVZ jedoch in den meisten Fällen nicht etabliert“, meint der vdek in seinem Magazin 2/2022. Für die RGZ befürwortet man eine Besetzung „mit mindestens vier Sitzen von Hausärzten sowie bestimmte grundversorgende Fachärzte wie Internisten, Orthopäden und (konservativ tätigen) Augenärzten oder Psychotherapeuten“. Auf diesem Wege könne bereits ein Großteil der Behandlungsanlässe im ambulanten Bereich abgedeckt werden. Videosprechstunden seien hier – aufgrund der Größe – ebenfalls leistbar.
Frank Winkler von der vdek-Landesvertretung betont zum drohenden Hausarztmangel, dass man diesem bereits mit zahlreichen Initiativen und Förderungen der Weiterbildung entgegengewirkt.
Dr. René Schilling, Leiter der Stabstelle Kommunikation der AOK Heilbronn-Franken, stellt nüchtern fest: „In Baden-Württemberg sind 37 Prozent der Hausärzte über 60 Jahre alt. Zirka 2600 von ihnen werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren ihre Praxen abgeben. Für zwei ausscheidende Hausärzte müssen künftig drei junge nachrücken, um dieselbe Zahl an Patienten versorgen zu können.“
Die Schaffung von neuen Medizinstudienplätzen und die Landarztquote seien laut AOK richtige Schritte, „aber nur ein Gesamtpaket verschiedener Ansätze kann die Versorgung in der Fläche sicherstellen“. Es müsse berücksichtigt werden, dass zwei Drittel der Medizinstudenten heute Frauen sind. „Die junge Ärztegeneration möchte Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Die selbstständige Tätigkeit als niedergelassene Mediziner, die häufig genug mit einer 50 bis 60 Stunden-Woche einhergeht, wird daher gescheut und die angestellte Tätigkeit mit geregelten Arbeitszeiten unter anderem in Medizinische Versorgungszentren vorgezogen“, so die AOK.
Nicole Battenfeld von der Techniker Krankenkasse ergänzt: „Es wurden schon einige Schritte unternommen, um die Niederlassung gerade auf dem Land attraktiver zu machen. Die Notdienste am Wochenende sind beispielsweise durch die Einführung von Notfallpraxen an Kliniken weitestgehend entfallen.“ Die TK plädiere dafür, „die Chancen der Digitalisierung konsequent zu nutzen“ und werbe deshalb auch für den Ausbau der Telemedizin.
Wer auf der Suche nach einem neuen Hausarzt ist, kann zuverlässige Daten unter anderem auf der Homepage der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KV) finden. Die KV bietet zudem das Patiententelefon „MedCall“ unter 0711 / 7875-3966 an.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/deutschland-welt_artikel,-seite-1-wir-steuern-in-baden-wuerttemberg-auf-eine-hausarzt-unterversorgung-zu-_arid,1979382.html