Stuttgart. Auf seiner „Love Earth“-Welttournee zeigt der 79-jährige Neil Young eine ähnlich beeindruckende Spätform wie zuletzt Vertreter der Ü-80-Rock-Champions-League wie Tom Jones in Schwetzingen oder Bob Dylan in Frankfurt. Auch sein Konzert am Dienstagabend auf dem Cannstatter Wasen ist ein fast durchgängiges Meisterwerk zwischen brüchiger Folk-Intimität und kraftstrotzendem Gitarrenrock. Dabei reicht die zweistündige Show mit The Chrome Hearts als Band nicht an das Konzertfanal heran, dass seine Fans fast auf den Tag genau vor sechs Jahren in der Mannheimer SAP Arena erleben konnten, einem der besten Auftritte in der bald 25-jährigen Geschichte der Halle überhaupt.
Einer der Gründe damals: Promise Of The Real (POTR), die Band der Nelson-Söhne Lukas und Micah, war als Begleitband eine absolute Attraktion. Das Quintett und der Altmeister schaukelten sich in einer Spirale gegenseitiger Inspiration zu einem heute seltenen Spektakel relativ freier Rock-Assoziation hoch. Was Youngs legendäre Begleitband, zumindest in ihrer Spätphase, tatsächlich in den Schatten stellte.
Ein Teil von Promise Of The Real verstärkt mit Orgel-Ikone Spooner Oldham
The Chrome Hearts, mit denen das aktuelle 48. (!) Studioalbum „Talking To The Trees“ eingespielt wurde. Entfalten eine ähnliche Wirkung auf Young, der vor allem an der Gitarre wirkt, als habe er gerade im Jungbrunnen gebadet. Kein Wunder: Drei der vier Musiker standen schon im Juli 2019 mit auf der Bühne.
Speziell Gitarrist und Keyboarder Micah „Particle Kid“ Nelson (35) ist im Zusammenspiel mit Young eine absolute Attraktion. Auch POTR-Schlagzeuger Anthony LoGerfo und Bassist Corey McCormick erweisen sich wieder als perfekte Rhythmussektion: mal wuchtig, mal sensibel, immer präzise und Song-dienlich. Dieser Allman-Brothers-artigen Jam-Maschine aus relativen Jungspunden hat der Altmeister mit der 82-jährigen Soul-Orgel-Ikone Spooner Oldham einen Erziehungsberechtigten zur Seite gestellt.
Neil Young & The Chrome Hearts - das Programm in Stuttgart am 8. Juli 2025
Hauptteil
1. Ambulance Blues (1974)
2. Cowgirl In The Sand (1969)
3. Be The Rain (2003)
4. When You Dance, I Can Really Love (1970)
5. Cinnamon Girl (1969)
6. Fuckin‘ Up (1990)
7. Love To Burn (1990)
8. The Needle And The Damage Done (1972)
9. Harvest Moon (1992)
10. Looking Forward (1999)
11. Sun Green (2003)
12. Like A Hurricane (1975)
13. Hey Hey, My My (Into the Black) (1979)
14. Name Of Love (1988)
15. Old Man (1972)
Zugabe
16. Rockin‘ In The Free World (1989)
Besetzung: Neil Young (Gesang, Gitarre, Mundharmonika), Spooner Oldham (Farfisa-Orgel), Micah Nelson (Gitarre, Keybords, Gesang), Corey McCormick (Bass, Gesang), Anthony LoGerfo (Schlagzeug). jpk
Der hat Song-Ikonen wie Percy Sledges „When A Man Loves A Woman“, Wilson Picketts „Mustang Sally“ oder Aretha Franklins „I Never Loved A Man (The Way I Love You)“ auf dem Arbeitsnachweis, der ansonsten auch Künstler von den Legenden Bob Dylan und Joe Cocker bis zu moderneren Alternative-Stars à la Cat Power oder Jack Black aufweist. Als Begleitmusiker hat er es tatsächlich 2009 in die Rock And Roll Hall Of Fame geschafft. Das klingt vorab auf dem Papier leider aufregender als auf dem Wasen: Denn von Spooners Farfisa-Orgel, dem italienischen Gegenstück zu den Hammond-Tasteninstrumenten ist im gitarrendominierten Sound nur selten überhaupt etwas zu hören.
Grandiose Show ohne Show-Effekte, nicht mal per Video
Das Setting auf dem riesigen (bestuhlten) Festplatz neben dem VfB-Stadion ist einer der Gründe, warum die Show gar nicht dieselbe Wirkung entfalten kann, wie in der SAP Arena (wo ebenfalls etwa 8000 Fans gebannt waren). Der Wasen steht zwar längst nicht mehr nur für megalomane Open Airs wie mit den Rolling Stones auf einem der Höhepunkte ihrer Zugkraft. Er ist ansprechend hergerichtet und der Blick auf die sanfte Hügellandschaft des Stuttgarter Kessels hinter der Bühne passt perfekt zu den ökologischen Earth-Botschaften Youngs. Aber die Stimmung im größtenteils älteren Publikum erinnert lange eher an ein steifes klassisches Konzert.
Die Show ohne Show-Effekte (nicht einmal Videoleinwände sind aktiv) startet intim. Neil Young beginnt solo, folkig und akustisch mit dem 51 Jahre alten „Ambulance Blues“. Da passen ein paar Zeilen perfekt zur heutigen Zeit nicht nur in den USA … wie fast immer lässt der Polit-Aktivist und engagierte Trump-Gegner seine Songs für sich sprechen und beschränkt seine Ansagen auf ein Minimum. Das nieselanfällige 16-Grad- Wetter hat ein Einsehen. Schon vor den ersten Tönen gegen 19.45 Uhr kommt die Sonne über der Bühne heraus. Neil Youngs gern mal brüchige Stimme zeigt sich wetterfest. In Berlin hatte er Gluthitze, zuletzt beim Jazzfestival in Montreux ähnliche Bedingungen wie auf dem Wasen. Solche Engagements unterstreichen die nicht enden wollende Relevanz des bald 80-Jährigen, der in diesem Sommer auch beim Musikgipfel in Glastonbury eingeladen war.
Liebe als ewige Botschaft zieht sich durch
Schnell gehen die Regler hoch. Es gibt ein gitarrenlastiges Intro zu „Cowgirl In The Sand“, das an Youngs Sternstunde in der SAP Arena erinnert. Wobei Young und Co. hier „nur“ 15 Minuten für die ersten zwei Songs benötigen (in Mannheim waren es 20). Auch das ist heutzutage ungewöhnlich – mutig. Aber es funktioniert. Und das alles klingt auch mit hoch angesetzten Chören für Open-Air-Verhältnisse schon früh am Abend exzellent. Nach dem krachenden Grunge-Wegbereiter „Fuckin‘ Up“ fragt sich der Hauptdarsteller dezent: „Hoffentlich sind die Lieder nicht zu persönlich für Euch …“. Da kann es nur Jubel als Antwort geben. Die ewige Botschaft des Pop transportiert sich in den meisten Songs und im Tourtitel „Love Earth“: Liebe. Das ist in Kombination mit wütendem Rock vermutlich sinnvoller als Ausdrucksmittel gegen den weltweit grassierenden Rechtspopulismus als ausgedehnte Ansprachen, die Bruce Springsteen derzeit vorträgt.
Der geniale Lärm wird vom Klassiker „The Needle And The Damage Done“ als fragile, sehr kurze Solonummer unterbrochen. Mit der sanft schunkelnden Country-Ballade „Harvest Moon“ geht es in voller Besetzung akustisch weiter - so harmonisch, dass es Szenenapplaus setzt. Das kürzlich verstorbene Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson hätte seine Freude daran gehabt, denkt man mit Blick in die Abendsonne.
Nach dem Crosby-Stills-Nash-&-Young-Spätwerk „Looking Forward“ wird es energetischer, der Sound tief geerdet. Wie schon „Be The Rain“ zeigt sich auch beim dezent auf Trumps Regentschaft umgedichteten „Sun Green“, dass die Texte, die Young 2003 aus Missvergnügen über George W. Bush aus der „Greendale“-Perspektive des Kleinstadt-Amerikas geschrieben hat, erschreckend aktuell klinge. Wahrscheinlich würde der US-Kanadier mit dem Ex-Präsidenten aber heute wohl mehr als ein Bier nehmen, um die Wut über Donald Trump zu ertränken. Durch den Canned-Heat-artigen Dauer-Groove mit Booker-T-Soul gerät das extrem effektvoll. Tatsächlich ist hier Oldhams Orgel erstmals im gesamten Areal richtig zu hören – und wie!
Dann wird wie im Theater von der Bühnendecke herabgelassen eine Art Schaukel-Keyboard herabgelassen. Das wirkt wie ein Schrein. Gehuldigt wird damit dem Rock `n‘ Roll, weil Micah Nelson auch als Keyboarder ein Irrwisch ist. So wird ein großer Song wie „Like A Hurricane“ im Jahr seines 50. Jubiläums noch größer - und klingt mit seiner Mischung aus Wucht, Fragilität und Improvisation zeitlos. Nach einer von mehreren Beratungen entscheiden sich die Musiker für den nächsten Klassiker, das Grunge-Denkmal „Hey Hey, My My (Into The Black)“, in einer von grellen Gitarren-Stößen befeuerten, tief dröhnenden majestätischen Version, um die man ein Live-Album bauen möchte. Sie klingt im Donnerhall aus.
Anschließend bringt „Name Of Love“, das zweite Lied aus dem Kosmos von Crosby, Stills, Nash & Young, den Abend programmatisch auf den Punkt. Nach dem wie immer großartigen „Old Man“ heißt es knapp „Thank you, folks!“ – und der kurzen Bandvorstellung folgt als schnelle Zugabe das perfekt positionierte „Rockin‘ In The Free World“, das mit einer Maschinengewehrsalve vom Schlagzeug aktualisiert wird. Mehr muss man zur Weltlage eigentlich nicht sagen.
Kein einziger Song vom neuen Album „Talking To The Trees“
Jetzt steht das komplette Publikum und die meisten sind sichtlich glücklich. Natürlich fehlen immer einige Klassiker – „Heart Of Gold“ oder „After The Goldrush“ beispielsweise. Aber das ist bei so einem zuletzt fast hyperproduktiven Songwriter dieser Qualität mit 62 Karrierejahren auf dem breiten Buckel letztlich unvermeidlich. Dass es kein einziges Lied vom aktuellen Album mit The Chrome Heart auf die Setlist geschafft hat, kann man allerdings erstaunlich finden. Oder es positiv sehen: Diesem unermüdlichen Freiheitskämpfer geht es offensichtlich nicht primär um Promotion und Kommerz – trotz der Eintrittspreise, die zum Teil ähnlich wuchtig waren wie der Sound.
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