Ferdinand von Schirach ist ein Phänomen, seit er seine Anwaltskanzlei getauscht hat gegen die Kanzel eines öffentlichen Schriftstellers. Die Welt ist alles, was ein Fall ist, hätte man von diesem Start weg das Rezept all seiner so erfolgreichen Bücher auf eine Formel bringen können. Inzwischen redet er immer wieder auch von sich, sodass sich aus kleinen Hinweisen autobiografische Versatzstücke filtern lassen, ohne dass er dabei aus dem Hintergrund treten würde. Ferdinand von Schirach bringt sich dezent ein, um seine Texte durch Zeugenschaft zu beglaubigen.
Detailscharf, pointiert und in präziser Sprache destilliert er aus Beobachtungen und Begegnungen Erkenntnisse, die über den Moment hinausweisen. Das entbindet ihn davon, mit erhobenem Zeigefinger eine Moral hinterherschicken zu müssen. Weil er sein Dabeisein rund um den Globus ansiedelt, sind die Texte zudem noch grundiert von Weltläufigkeit. Scheinbar zufällig Erlebtes verdichtet er dann zu Bedeutsamem über den Anlass hinaus, was mittlerweile zum typischen Schirach-Sound geworden ist. Wie er den in immer neuen Variationen durchspielt, ist keine kleine Kunst. Man will immer mehr davon.
Zufallsbegegnungen und die Grundfragen der Philosophie
Und man bekommt es mit dem reichlichen Dutzend neuer Texte im Erzählband „Der stille Freund“ des Bestsellerautors und zuverlässigen Lesefutterlieferanten. Der titelgebende stille Freund ist in Namibia mit seiner Cessna in den Tod gestürzt. Schon während der gemeinsamen Zeit in der Jesuitenschule hatte dieser Massimo die wichtigen Bücher gelesen, am Glauben gezweifelt und die großen Fragen gestellt. Warum führten die Athener Krieg, und warum waren nach der Aufklärung die größten Verbrechen möglich? Regeln gibt es nicht und gab es nie. Es bleiben nur das Staunen und die Schönheit, wofür man sich wach zuhalten hat. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Worauf darf ich hoffen? So werden Kants kategorische Fragen in die Nähe einer Antwort gerückt. Was für ein Beginn dieses faszinierenden Buches!
Cynthia ist eine Kindheitsfreundin des auch hier präsenten Erzählers. Ihre Eltern zählten zu den reichsten Familien Schlesiens. Seit sie alles verloren haben, leben sie von Erinnerungen. Zu ihrer Hochzeit in Rom hatte er eines Mandats wegen nicht kommen können. 38 Jahre später sieht Cynthia immer noch ein wenig so aus, wie Babe Paley auf dem Foto, das Horst P. Horst 1946 für die Vogue gemacht hat.
Nun sitzen sie hier in einem Haus aus dem 16. Jahrhundert mit Marmorbüsten und Skulpturen, hören die vom Leben beglaubigte Musik Chet Bakers, und Cynthia erklärt den Unterschied zwischen einer immer da gewesenen Upper Class und der neuen High Society, die dem Klatsch der Boulevardpresse entstieg. Dies ist der Unterschied zwischen dem alten Europa und dem neuen Amerika, zwischen Marcel Proust und Truman Capote. Und dann entwickelt sich diese grandiose und brutalste Geschichte des Buches zu einem Albtraum wie in Kafkas Strafkolonie.
Auch weitere Texte basieren auf solchen Zufallsbegegnungen. Eine talentierte Referendarin vertritt ein Orchester gegen seinen Dirigenten, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Ein promovierter Taxifahrer hat seine psychotherapeutische Praxis aufgegeben, weil er sich schuldig am Tod eines seiner Klienten glaubt. In Kapstadt erfährt er von einem Großvater, der durchdrehte und öffentlich den Führer beschimpfte, nachdem sein Sohn auf dem Feld der Ehre gefallen war. Die Gestapo holte ihn ab, die Witwe bekam die Rechnung für die Hinrichtung: 746,80 Reichsmark. Ein Jahr später war der Krieg vorbei. Antonia hatte ihn einst in seiner Studentenwohnung besucht, dann war sie als Hippie in fernen Ländern unterwegs, ihren Sohn gab sie mit vier zu den Großeltern. Der meldet sich nun nach dem Tod der Mutter in der Kanzlei des Erzählers …
Erzählungen von Dingen, die nie so einfach sind, wie sie scheinen
Nach einer Lesung kommt einer und zweifelt an der Logik des Lebens, weil sein Vater ausgerechnet in dem Moment überfahren wurde, als er etwas Gutes tun wollte. Lisas Bruder war so sehr ein Genie, dass er damit nicht leben konnte. Und überhaupt sind die Dinge kompliziert zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, nicht nur wenn sich einer an der Côte d‘Azur in die fünfzehn Jahre ältere Enkelin der Tante verliebt.
„Ich bin Schriftsteller, ich erzähle nur Geschichten“, bescheidet sich von Schirach. In anderen Erzählungen berichtet er von realen Figuren der Kulturgeschichte – von Goethe, der dem Fürsten Reuß während des Feldzugs gegen Frankreich die Farbenlehre erklärt, vom Wiener Architekten Adolf Loos, der nackte Proletariermädchen zeichnete, von George Orwell, der ein Wahrheitsministerium erfand, das die Realitäten verdrehte, von Gottfried von Cramm, dem eleganten Tennisspieler, der mit unbedingtem Fairplay Deutschland um den Sieg brachte. Vom Wiener jüdischen Privatgelehrten Egon Fridell, der eine Kulturgeschichte schrieb und 1938 vor zwei SA-Leuten in den Tod sprang. Immer wieder Menschliches, Allzumenschliches. Und die Decke der Zivilisation ist dünn. Suggestiv erzählt Schirach von den Dingen, die nie so einfach sind, wie sie scheinen.
Zum Buch
Ferdinand von Schirach
Der stille Freund.
Luchterhand. 174 Seiten. 22 Euro.
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