De Kall mähnt

Owacht! Øn Woihnachdä därff känna vagessä wärrä! - das hochdeutsche Original

Am Heiligabend „mähnt de Kall“ mal nichts, sondern erzählt mit Leserin Heidi Herborn eine Weihnachtsgeschichte. Dem hochdeutschen Original Herborns hat Kall eine sehr freie kurpfälzische Übersetzung gegenübergestellt

Von 
Heidi Herborn
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Mannheim. Es war mitten in der Nacht. Ich war von einem Geräusch aufgewacht, das sich wie das Meckern einer Ziege angehört hatte. Offensichtlich hatte ich geträumt. Ich drehte mich um, und schlief wieder ein. Doch da war ein leises aber deutliches Meckern zu hören und ein leises Flüstern: „Entschuldige, dass ich dich mitten in der Nacht störe.“ Ich traute meinen Augen nicht: Eine Ziege stand vor meinem Bett; zwei große Augen schauten mich intensiv an.

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„Bist du echt, oder träume ich?“, fragte ich. Sie beantwortete meine Frage nicht, sondern sagte: „Ich möchte dir eine Geschichte erzählen“. Ich strich ihr über das Fell und fragte: „Möchtest du beim Erzählen hier stehenbleiben, oder willst du dich lieber dazu hinlegen?“„Ich würde gerne mit dir auf deinen Balkon gehen“, antwortete sie, „dort sehe ich in den Himmel und die Sterne und kann ganz weit in meine Erinnerung schauen … bis zu jener Nacht, von der ich dir erzählen will.“

Eine besondere Nacht

Ich zog mir eine Jacke und meine Stiefel an, nahm meine Wolldecke mit, denn draußen war es kalt. Dann gingen wir zusammen auf den Balkon. Ich setzte mich auf meinen alten Stuhl, wickelte mir die Decke um und sagte: „Du kannst jetzt anfangen.“ Lange war es still. Dann fragte sie: „Hast du jemals in dem Stall eine Ziege gesehen?“ Irgendwie wusste ich sofort, von welchem Stall sie sprach. „Du meinst den Stall in Bethlehem.“ Sie nickte und blickte dabei hinauf zum Himmel.

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Eine Ziege im Stall von Bethlehem? Ich war irritiert. Davon hatte ich noch nie gehört. Da war immer nur von Ochs und Esel die Rede. Irgendjemand hatte später erzählt, dass auch ein Floh im Stall gewesen sei, aber von einer Ziege war nie die Rede. „Aber es war auch eine Ziege im Stall, und ich will es endlich erzählen!“ Sie sprach lauter als vorher und betonte jedes einzelne Wort.

„Damals, als das neue Buch noch nicht geschrieben war, wussten alle, dass die Ziege zu jedem Haus gehörte, und in jedem Stall zu finden war. Sie war die wichtigste Lieferantin für Milch. Auch das Pergament der Thorarollen wurde aus der Haut einer Ziege hergestellt. Darüber hat schon Mose berichtet. „Das wusste ich nicht“, sagte ich. „Die meisten wissen das nicht. Warum die Ziege in Vergessenheit geraten ist, das weiß eigentlich niemand; dabei hat sie der Familie im Stall mehr geholfen als Ochs und Esel, die nur so rumstanden. Sie war richtig laut geworden.

Schafe, Ochsen und Esel

„Die Ziege, die mit im Stall war – sie hieß übrigens Rivkah – sie hat für Milch gesorgt, und Joseph, so hieß er doch, oder?“ Sie blickte mich fragend an. Ich nickte, und sie fuhr fort: „Joseph hat die Ziege gemolken. Jeden Tag drei Liter Milch waren das. Natürlich ist das eigentlich ganz normal, aber findest du nicht, dass es gerecht wäre, wenn in der Geschichte, die jedes Jahr erzählt wird, auch das Tier vorkommen würde, das damals dabei war, nämlich die Ziegen, von denen es damals ziemlich viele gab?

Auch die Hirten auf den Feldern hüteten oft Schafe und Ziegen zusammen. Wir Ziegen wissen, warum immer nur von Hirten und Schafen die Rede ist. Die Schafe, die rupfen und rupfen und käuen endlos wieder, ohne etwas zu verstehen. Wir Ziegen sind klüger und machen eben nicht immer alles, was die Hirten wollten.“

Innerlich musste ich ein wenig schmunzeln. Vorsichtig fragte ich: „Kannst du mir sagen, warum du mir das alles erzählst?“ „Gute Frage“, antwortete sie mir. „Die anderen haben mir alle abgeraten. Lass es bleiben, haben sie gesagt, es sind jetzt so unendlich viele Jahre vorbei gegangen, ohne Ziege im Stall von Bethlehem. Wichtig ist doch, dass wir Ziegen es wissen, und die Erinnerung daran wachhalten. Von Generation zu Generation ist die Geschichte weiter erzählt worden. Wir wussten es schon vor den Hirten, was für ein wunderbares Kind in dem Stall geboren wurde. Dass eine von uns dabei war, ist ein wichtiges Kapitel in unserer Ziegen-Geschichte, darauf bin auch ich stolz.“

Ich schwieg lange. Dann sagte ich zu ihr: „Ich bin sehr froh, dass du mir das erzählt hast, und ich verspreche dir, dass ich deine Geschichte allen meinen Freundinnen und Freunden weiter erzählen werde. Mir fällt bestimmt noch etwas ein, dass Rivkah nicht so schnell vergessen wird!“

Dann schaute ich hinauf in den Himmel und hatte das Gefühl, dass der helle Stern, der direkt über dem Haus stand, etwas heller strahlte als vorher. Ich blickte mich um, und bemerkte, dass ich allein auf dem Balkon saß. Die Ziege war verschwunden, leider hatte ich vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen.

Hier geht's zur freien kurpfälzischen Übersetzung.

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