Eine meiner größten Schwächen ist es, ständig was Neues lernen zu wollen. Es zieht sich als elendes Credo eines lebenslangen Lernens durch mein Leben. Caro sagt ja, ich werde noch auf dem Sterbebett ein Buch über irgendwas lesen, was ich lernen oder verbessern will. Ich glaube, dort, auf dem Sterbebett, wird die letzte Lehre auch die bitterste sein. Da werde ich das Sterben lernen müssen. Gibt es ein Buch darüber – so was wie „Das Leben ist zu kurz für später“ oder „Wie du Menschen loswirst, die dir nicht guttun, ohne sie umzubringen“? Am Ende bringt einen eh das Leben um. Manche sagen zu mir: „Hey, du übertreibst es echt.“ Um ehrlich zu sein: Fast alle sagen das, und wer es nicht sagt, denke ich, denkt es.
Warum ich das schreibe? Ich lerne durch so eine Sprach-App Italienisch. Eine dumme Idee. Ich habe mich schon zu Schulzeiten geärgert, wie Sprachunterricht funktioniert. Am Ende meines Schulfranzösischs konnte ich mich über das Für und Wider des Nato-Doppelbeschlusses unterhalten. Am Ende meines Schulfranzösischs konnte ich mich über das Für und Wider der Atomkraft unterhalten. Am Ende meines Schulfranzösischs konnte ich alles Wider des widerlichen Nationalsozialismus erörtern. Aber als ich mit meinem Schulfranzösisch in Paris aus dem Zug stieg, konnte ich nicht fließend danach fragen, wo ich eine einigermaßen bezahlbare Studentenbude auftreiben kann. Ähnlich geht es mir jetzt – mit flacher gespieltem Ball – bei meiner neuen Freundin, der App. Sätze voller Weisheit wie „Due conigli e tre tartarughe scendono dal treno“ (Zwei Kaninchen und drei Schildkröten steigen aus dem Zug aus) oder „Vorrei una tovaglia nuova per Natale“ (Ich möchte zu Weihnachten eine neue Tischdecke) kann ich hehr und fließend auf allen Brettern dieser Welt rezitieren – auch wenn ich mir vieles wünsche, nur keine neue Tischdecke. Ich habe, stand heute, 705 italienische Wörter gelernt, sagt mir meine Freundin, die App. Sie hat mich vieles gelehrt, was ich nie brauchen werde. Wie man „Ich liebe dich“ sagt, nicht. Wahrscheinlich verlässt sie sich da auf Giuseppe Verdi, Umberto Tozzi und Monica Bellucci. Schließlich habe ich durch Verdis Opern und natürlich den 1977er-A-Dur-Hit vor langem das „ti amo“ gelernt.
Also ich verstehe das nicht. Die meisten Menschen lernen doch eine Sprache, weil sie in das Land reisen, in der die Sprache gesprochen wird. Ich habe 705 Wörter und unzählige Sätze zigmal repetiert, aber einen Satz wie „Entschuldigen Sie, ich bin hier fremd und spreche nur wenig Italienisch. Könnten Sie mir ein Restaurant empfehlen?“ habe ich nicht gelernt. Dabei wäre der sehr praktisch, wenn ich im kommenden Jahr nach Umbrien, in die Marken oder Abruzzen fahre (ich habe extra der Deutschen liebste Toskana weggelassen). Auch mit einem Satz wie „Giorgia Meloni è una vacca stupida e destrorotatoria“ könnte ich gut leben. Aber auch der ist in den vielen Wochen, die ich lerne, nicht vorgekommen. Den Satz übersetze ich jetzt hier lieber nicht. Das ist mir zu gefährlich. Das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt: Man darf alles denken, aber nicht alles sagen.
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