Region Rhein-Neckar/Welt. Tourismus ist in der Krise und zwar ganz jenseits der Pandemie. Bis dato ist das Reisen überwiegend positiv besetzt. Tourismus steht bis heute zum einen für Begegnung, Entspannung und Bildung und zum anderen für Einkommen und Entwicklungschancen. Und das gilt im Grunde bis heute.
Doch zunehmend gerät eine weitere Seite dieser Geschichte in den Blick. Denn das Preisdumping, das zahlreiche Fluggesellschaften, Kreuzfahrtunternehmen und „Sharing Economy“-Unternehmen wie Airbnb ausgelöst haben, scheint eine Tourismusflut zu befeuern, in der einige Städte zu ertrinken drohen. Venedig mit seinen knapp 56 000 Einwohnern sah sich vor Corona jährlich mit 30 Millionen Besuchern konfrontiert. Barcelona mit seinen rund 1,6 Millionen Einwohnern rechnet jährlich mit deutlich über zehn Millionen Besuchern. Und die winzige Altstadt von Dubrovnik mit gerade noch 900 Einwohnern steuert auf zwei Millionen Besucher im Jahr zu. Auf Mallorca waren am 9. August 2016 erstmals 1,5 Millionen Menschen zugleich auf der Insel. Und auf dem Jakobsweg pilgerten 2014 fast 250.000 Menschen. 1990 waren es weniger als 5000.
Städtetrips boomen wie noch nie
Es ist überall dasselbe Bild. Laut dem „World Travel Trends Report“ boomen Städtereise wie nie zuvor. Im Vergleich zu 2007 stiegen die Zahlen der Städtetrips von Europäern bis 2015 um 60 Prozent. Dabei ließen die Autoren keinen Zweifel an ihrer Erwartung, dass dieser Bereich weiterwachsen werde. Corona, so eine durchaus belastbare Vermutung, werde nur für eine kurze Unterbrechung dieses Trends sorgen. Erste Eindrücke aus Mallorca rund um Pfingsten lassen kaum einen anderen Schluss zu. Auf der Insel werden dieses Jahr 14 Millionen Gäste erwartet. Das ist mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019. Damit wird der Tourismus zur Gefahr für sich selbst, weil er zerstört, was er liebt. Der Widerstand in den verschiedenen Destinationen wächst zusehends. „Tourist go home“, „Your tourism kills my neighbourhood“ oder „Refugees welcome, Tourists not“ sind die prägnantesten Zeichen dieses Widerstandes. Dabei ist es nicht der Tourismus an sich, der die Menschen gegen sich aufbringt. Es ist die Zahl und die Art des Tourismus, der weniger mit Begegnung und Lernen als mit Feiern und Saufen zu tun hat. Darüber hinaus blieben Kosten für Müllentsorgung und Instandhaltung weiterhin Aufgaben der Gemeinschaft, währenddessen die Gewinne in immer weniger Hände wandern. Es ist eine verhängnisvolle Melange.
In der katalanischen Metropole hatte diese Melange politische Folgen. Im Mai 2015 konnte die Linksaktivistin Ada Colau mit dem Slogan „Wir wollen nicht wie Venedig werden“ den Kampf um das Amt des Oberbürgermeisters in Barcelona für sich entscheiden. Die Stadt verzeichnet unter allen Metropolen der Welt seit 1990 den stärksten Zuwachs im Tourismus. 1990 gab es hier in 118 Hotels 1,7 Millionen Übernachtungen. Für 2016 verzeichneten die 426 Hotels und 430 Pensionen fast 17 Millionen Übernachtungen. Nicht mitgezählt wurden hier die Touristen, die in den Tausenden von Privatwohnungen untergekommen sind. Zwischen 2013 und 2016 soll sich das Wohnungsangebot von Airbnb, laut der Stadtverwaltung, auf rund 30 000 Wohnungen annähernd verdreifacht haben. Folge ist eine massive Umwälzung des städtischen Lebens. Urbane Zentren wie der Markusplatz in Venedig, die Strada in Dubrovnik oder die Rambla in Barcelona haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Facelifting erlebt, das einer Revolution nahekommt. In der Wissenschaft kursiert in Anlehnung an die Gentrifizierung der Begriff Touristifizierung. Dabei wird durch den Touristen das soziale Gefüge in einem Viertel komplett umgekrempelt, sodass das Ursprüngliche kaum wiederzuerkennen ist. Traditionelle Cafés und typische kleine Inhabergeschäfte machen Souvenirläden, Bars, Fast-Food-Ketten und Konzernen Platz. Die Ramblas, noch vor einigen Jahrzehnten eine herrliche elegante Flaniermeile vom Placa de Catalunya zum Hafen, mit dem grandiosen Opernhaus Liceu, traditionellen Blumengeschäften und wunderbaren Cafés ähnelt heute eher einem Jahrmarkt. Leben in der Altstadt wird zum nervenaufreibenden Hindernislauf zwischen betrunken grölenden Touristen und Großgruppen mit Selfiesticks und Rollkoffern.
Mieten in Barcelona explodieren - auch wegen Airbnb
Am schlimmsten für die Einwohner ist die Entwicklung der Mieten. Nach einer Studie, veröffentlicht in der Tageszeitung „El Pais“ sind die Mieten allein zwischen 2015 und 2018 um fast 35 Prozent gestiegen. Vor allem in den angesagten Vierteln, wie Ciutat Vella und Barceloneta sind sie dank Airbnb und anderen Internetplattformen geradezu explodiert. Eine Entwicklung, die alteingesessene Einwohner immer mehr an den Stadtrand drängt und die neue Bürgermeisterin Ada Colau auf den Plan rief. Als Erstes wurde die Vergabe von Lizenzen für den Bau von Hotels drastisch beschränkt und für Wohnungseigentümer, die ihre Wohnung an Touristen vermieten wollen, zur Pflicht gemacht. Ein Team von Mitarbeitern hat in der Folge mehrere Hundert unlizenzierte Wohnungen ausfindig gemacht und empfindliche Strafen von bis zu 30 000 Euro verhängt. Mittlerweile, so Colau, seien über 700 Wohnungen vom „Sharing Economy“- Markt verschwunden. Auch Airbnb wurde mit einem Strafmandat über 600 000 Euro belegt, wogegen das Unternehmen jedoch Einspruch erhoben hat. Die neuesten Pläne sehen auch Geldbußen für die Mieter vor. Damit, so die Hoffnung im Rathaus, solle der Druck auf das Unternehmen erhöht werden. Nichts sei schlechter in der „Sharing Economy“ als schlechte Presse.
Es sind wichtige Maßnahmen auf dem Weg zu einem nachhaltigen und verträglichen Tourismus. Aber Colau und die zahlreichen Aktivisten in den europäischen Städten betonen unisono, dass sich ein verträglicher Städtetourismus nicht nur an Regulierungsmaßnahmen, sondern auch am Verhalten jedes einzelnen Gastes entscheidet. Kleine lokale Geschäfte bevorzugen, eher in einem familiengeführten Hotel oder Pension absteigen und vor allem nicht ständig betrunken, halbnackt und krakeelend auf das eigene Sein aufmerksam machen. Betont freundlich werden in zahlreichen Städten die Touristen dazu aufgefordert, Rücksicht zu nehmen und beispielsweise ihre Rollkoffer wenigstens in den engsten Gassen und auf Pflasterstein zu tragen.
58 Prozent der Touristen in Barcelona sind von Touristen genervt
In Sachen Wohnungen hat Barcelona übrigens eine Webseite erstellt, mit der Touristen im Vorfeld online überprüfen können, ob sie für ihren Urlaub eine Wohnung mit Lizenz anmieten. Der Hinweis auf diese Webseite wird dabei jedem Besucher automatisch als geocodierte Anzeige auf das Smartphone geschickt. All das scheint auch im Sinne der Touristen zu sein. Bei einer Umfrage unter Besuchern der katalanischen Metropole im Jahr vor Corona erklärten 58 Prozent der befragten Touristen, dass sie von den Touristen genervt seien. Weder die Barcelonaer noch ihre Besucher scheinen zu wollen, dass die Stadt zu einen Potemkinschen Dorf mit billigen Souvenirläden verkommt. Ein Ansatz, den wohl alle betroffenen Städte blind unterschreiben würden. Colau Leitlinie lautet: „Weg vom Billigparty-Tourismus hin zum QualitätsBildungs-Tourismus.“ Und das heißt auch, es muss wieder teurer werden. Es ist eine Gratwanderung. Aber eine, die gelingen muss, wenn der Städtetourismus eine Zukunft haben will.
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