Schwetzingen / Deutschland. Es ist ein Dschungel. Zwei Wörter, einmal drei und einmal zwei Buchstaben. Aber dahinter verbirgt sich ein hochkomplexes Geflecht aus Geschichte, Macht, Respekt, Vertrauen, Nähe, Distanz und Höflichkeit. Es ist ein sozialer Irrgarten und jeder, der glaubt, die Sache mit dem „Sie“ und dem „Du“ verstanden zu haben, wird bald eines Besseren belehrt. Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin, spricht angesichts der Entscheidung zwischen Du und Sie von „unglaublich komplizierten und interessanten Verwerfungen“. Auf den Punkt brachte dieses komplizierte Geflecht der langjährige SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Auf die Frage eines Parteigenossen, ob er ihn nun duzen könne, antwortete Wehner: „Das können Sie halten, wie Du willst.“
Aus der historischen Perspektive beschreiben die unterschiedlichen Anredeformen ein gesellschaftliches Machtgefälle. Oder, so sehen das die Soziologen Bettina und Lars Clausen, „Anredeformen sind Ausdruck sozialer Ungleichheit“. Für sozial Gleichgestellte habe es über Jahrhunderte keine besonderen Anredeformen gegeben. Allein im Kontext des sozialen Macht- und Ansehensgefälles entstanden spezielle sprachliche Sitten. Soziale Distanz wurde durch die grammatikalisch dritte Person sichtbar gemacht. Heißt, von oben (Adel, Klerus) nach unten wurde „geerzt“ und von unten (gemeine Volk) nach oben „geihrzt“ (Pluralis Majestatis).
Sie oder Du: Höflichkeitsformen im Wandel der Zeit
Eine Respektbekundung allein auf Basis der gottgefügten gesellschaftlichen Stellung. Mit dem Niedergang absolutistischer und feudalistischer Herrschaftsformen zugunsten demokratischer Mitbestimmungssysteme und dem Auftreten zunehmend selbstbewusster Bürger geriet diese Anrederegel unter Druck. Die Bürger forderten von der Obrigkeit eine respektvolle Anrede. Nur drei Buchstaben, aber für die damalige Zeit waren sie ein Sinnbild für eine kleine gesellschaftliche Revolution. Stünden doch jedem Menschen ein höflicher und vor allem respektvoller Umgang zu. Das ging so weit, dass Kinder ihre Eltern und die Ehepaare sich untereinander gesiezt haben. Der Soziologe Ulrich Beck erklärte das „Sie“ aus historischer Sicht zu einem Baustein für das Konzept der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Deshalb gilt übrigens bis heute das einseitige Duzen als Herabwürdigung und Respektlosigkeit.
In Bewegung geraten ist die Sache mit dem „Sie“ und dem „Du“ mit den 68ern. Das steife „Sie“ galt als gesellschaftlicher Beton. Dementsprechend galt das „Du“ als Symbol gegen den gesellschaftlichen Muff von 1000 Jahren. In dieser Zeit konnten die Du- und Sie-Sitten beinah politisch verortet werden. Im konservativen Lager blieb es beim „Sie“ und im Linken-Lager war das „Du“ üblich. Eine Struktur, die sich bis heute mehr oder weniger gehalten hat. Auch wenn sich dies im Zuge der Digitalisierung und amerikanischer Start-up-Kultur gerade zu verändern scheint. Otto Schrader, Chef vom Otto-Versandhandel, informierte zu Beginn dieses Jahres seine 53 000 Mitarbeiter per Mail, dass im Unternehmen nun geduzt werden solle.
Sie oder Du: Immer mehr Konzerne setzen auf sprachliche Nähe
Desgleichen gilt auch für die 375 000 Mitarbeiter der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland). Klaus Gehring (Schwarz-Gruppe) und Schrader (Otto Konzern) glauben, damit einen Kulturwandel voranzutreiben. Mehr Nähe und mehr Identifikation mit dem Unternehmen steigern die Produktivität, so die Rechnung der Chefs. Ob es so kommt, sei aber alles andere als sicher. Erst einmal, so der Prorektor der Bielefelder Fachhochschule der Diakonie Tim Hagemann, würden damit nur Formalitäten abgebaut. Weitaus entscheidender seien aber Beteiligungsmodelle, tatsächlich flachere Hierarchien und die Delegation von Verantwortung. „Sie“ und „Du“ seien nur Wörter.
Schwetzingens Oberbürgermeister Dr. René Pöltl sieht in dieser Entwicklung sogar Nachteile. Für ihn ist das „Sie“ nicht nur eine Respektsbekundung. Denn mit diesen drei Buchstaben gehe auch eine Art Schutzraum einher. Mit dem „Sie“ verbinde sich eine Distanz, die klarmache, dass das Rathaus ein Arbeitsplatz sei und nicht das familiäre Wohnzimmer. Das „Du“ könne auch als Versuch gewertet werden, Arbeit zu entgrenzen. Darüber hinaus hätten es Mitarbeiter verdient in ihrer Arbeit gewürdigt zu werden. Und dabei ist das „respektvolle Sie“ ganz sicher nicht die wichtigste Würdigungsformel, aber sie sei eine.
Du oder Sie: Jüngere haben größeres Abgrenzungsbedürfnis
Insgesamt, nach 68er, Dot.com und unternehmerischen Du-Wellen scheint das „Sie“ wieder auf dem Vormarsch zu sein. „Die Jüngeren haben heute ein viel größeres Abgrenzungsbedürfnis als die 68er“, so Walschburger von der FU Berlin. Ob das, wie er vermutet, auch eine Zunahme der Hierarchisierung bedeutet, ist jedoch strittig. Denn die Nutzung von „Du“ bedeutet ja nicht per se eine flachere Hierarchie. „Du machst, was ich sage“ hört sich im Vergleich zu „Sie machen, was ich sage“ im beruflichen Umfeld vielleicht sogar etwas unhöflicher an. Das „Du“ signalisiert eine Nähe, die im Gegensatz zur Familie in Unternehmen so eben doch nicht gegeben ist. Und genau diese Nähesimulation kann zu Irritationen und Enttäuschungen führen, die bei der Sie-Form so kaum aufgetreten wären.
Ein Mythos ist übrigens, dass das im englischen alles viel einfacher wäre. Das „you“ scheint zwar auf das deutsche „du“ zu verweisen. Aber das „you“ gehe mehr auf das veraltete „thou“ zurück, was eine respektvolle Pluralform zu Shakespeares Zeiten darstellt. Genau genommen siezen sich die Engländer also alle. Weitere Codes, die in den USA genutzt werden, sind „you“ mit Vornamen oder „you“ mit Nachnamen. Darüber hinaus gehe es auch um Tonfall, Kleidung und Körpersprache. Im ungarischen wird neben der Anrede „te“ (sehr vertraut) und „maga“ (distanziert) mit „ön“ (sehr förmlich und respektvoll) sogar noch eine dritte Form genutzt. In asiatischen Sprachen gibt es noch komplexere Höflichkeitsformen. Und in weiten Teilen des mittleren und südlichen Afrikas gibt es in der Bantu-Sprache sogar eine Art höfliche Vermeidungssprache, die sich auf das Allernötigste beschränkt, um im Dialog mit Menschen (mit denen man nicht reden will, aber muss) jeglichen Missverständnissen vorzubeugen. Anrede ist also nie einfach. Das gilt auch für das Du-Musterland Schweden. Auch hier lauern Fettnäpfchen und Fallstricke, die zu Missverständnissen führen können. Darüber hinaus beobachten Sprachwissenschaftler in Schweden die Rückkehr des altertümlichen „ni“, was dem deutschen „Sie“ entspricht.
Sie oder Du: Es geht um Ausdruck von Respekt
In allen Ländern werden Unterschiede in der Ansprache von bekannt bis unbekannt gemacht. Und stets gehe es um Ausdruck von Einschätzungen, von Respekt bis Beleidigung oder Freundschaft bis Feindschaft. Dabei gebe es in keinem Land die eine klare Regel. Sogar die beiden Expertinnen, die Redenschreiberin Alexandra Sievers und die Leiterin des Deutschen Knigge-Rates, Anna Jarosch, kommen nach rund 20 Seiten Abhandlung über die richtige Wahl der Anrede zu dem Schluss, dass die Wahl zwischen „Sie“ und „Du“ viel Fingerspitzengefühl erfordere. Denn auch wenn sie sich die jeweiligen Gepflogenheiten innerhalb einer Gemeinschaft relativ gut ableiten lassen, ist sie immer auch eine Frage der persönlichen Einstellung. „Sie werden immer wieder auf Mitmenschen treffen, die sowohl ihre persönliche Auffassung als auch die allgemeinen Empfehlungen zum höflichen Umgang bewusst oder unbewusst ignorieren.“
Die Geschäftsführerin des „mildners“ in Heidelberg-Bergheim, Nahal Najafi-Hamedani, hat für ihr Café eine eigene Regel gefunden. „Grundsätzlich wird hier jeder geduzt.“ Für sie geht es um die Atmosphäre, die eher in Richtung Wohnzimmer, denn Bankschalter gehe. Trotzdem gebe es vereinzelt Situationen, wo das „Sie“ angezeigt sei. Entscheidend sei hier das Bauchgefühl. Keinesfalls sei das „Du“ hier aber respektlos gemeint. „Da geht es mehr um Nähe und menschliche Wärme.“ Und sie ist davon überzeugt, dass das in beiden Ansprechformen gehe. Sicher ist sie sich, dass das „Sie“ nicht per se spießig und das „Du“ immer lässig sei. Es brauche etwas Fingerspitzengefühl und Empathie. Dabei musste sie lachen, ist das ja doch wieder ziemlich kompliziert.