"Was ist schon normal?“, fragt Alya und fügt hinzu: „Wir zum Beispiel: Wer von uns vieren ist normal, würde sich selbst als normal bezeichnen oder auch nur als normal bezeichnen wollen?“ Alya denkt, sie hätte eine rhetorische Frage gestellt, doch Bela hebt, während er sich genüsslich eine Gabel fein aufgedrehter Spaghetti in den Mund schiebt, die Hand und schmatzt: „Mmh, mmh, ich!“
Caro prustet sofort los: „Du bist doch nicht ganz normal, dich als normal zu bezeichnen – mit deinem Scheißluxus wider jede Vernunft. Außerdem dürftest du einen BMI von …“, sie sieht an Bela hinab bis unter den Tisch, „… von 28 haben. Und ich kenne dich: Muskel- und Hirnmasse spielen da eine untergeordnete Rolle. Sie nennen das übrigens freundlich „leichtes Übergewicht“. Zu deiner Info: Normal wären 18,5 bis 25. Normal sind in Deutschland übrigens nur noch wenige. 61 Prozent der Männer sind, so wie du, übergewichtig und 47 Prozent der Frauen.“
Bela ist sichtlich überrascht, dass Caro sich in solchen Dingen auskennt, und sagt: „Was normal ist, bestimmen doch nicht Zahlen, sondern die Mehrheit, und wenn nun die Mehrheit der Bevölkerung einen BMI von 28 hat, dann bin ich normal.“ Caro hält dagegen, man könne doch auch nicht sagen, wenn alle Deutschen einen IQ von 70 hätten, sei 70 normal.“ Doch Bela weiß: Beim IQ sei 100 normal, und wenn alle im Durchschnitt auf 70 kämen, sei 70 das neue 100.
Caro lässt sich damit nicht abspeisen und sagt: Ein niedrigerer IQ würde die Krankenkassen ja auch nicht Milliarden kosten. Die vielen Dicken, die sie im Juli an Stränden und Schwimmbecken Pommes, Mayo und Kuchen fressend gesehen habe, seien teils klar adipös und hätten damit laut WHO eine „abnorme oder übermäßige Fettansammlung“ und ein hohes Gesundheitsrisiko zu tragen. „Die kosten uns Milliarden“, sagt sie. „Das haben uns 2008 die bescheuerten Investmentbanker der Lehman Brothers mit ihren IQs zwischen höllisch und himmlisch auch gekostet“, schießt Bela – und Alya nickt eifrig dazu.
Caro blickt in die Runde. „Ihr … ihr habt euch gegen mich verschworen“, sagt sie ganz nüchtern, „ich fasse es nicht. Ihr habt euch gegen mich verschworen, ihr elenden …“, etwas Übles scheint ihr gerade nicht einzufallen für die gewagte These eines Komplotts.
„Ach wo“, sage ich, „ich bin auf deiner Seite. Man muss das schon benennen dürfen, dass die Leute zu dick sind und trotzdem munter weiter mampfen und hamstern, während im globalen Süden von Milliarden Menschen zunehmend gehungert wird.“ Wie jetzt, fragt Alya, die kriegten doch auch nicht mehr zu essen, wenn wir weniger äßen. Da muss ich aber sagen: Auf dem Niveau kann ich nicht diskutieren. Für mich zeigt sich da symbolisch nur die Absurdität der Verteilung von Gütern und Wohlstand. Die einen haben zu viel, die anderen zu wenig. Körperlich. Und an Aufmerksamkeit. Das hat mit Respekt und Sensibilität zu tun. So denke ich. Aber in einem muss ich Alya doch recht geben: Auf die Frage, wer von uns vieren sich selbst als normal bezeichnen würde, würde ich niemals, wie Bela, die Hand heben.
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