Es wäre zu viel verlangt, sogleich in Feierlaune zu geraten. Der Zeitpunkt des 75-jährigen Bestehens des Grundgesetzes veranlasst mehr zum Innehalten als zur allgemeinen Selbstlobhudelei. Deutschland und seine Demokratie befinden sich 2024 nicht in bester Verfassung, so nett dieses Wortspiel im Zusammenhang mit dem Grundgesetz auch wäre. Im Kleinen wie im Großen gibt es Anlass zur Sorge. Abseits der Bundestagswahlen lassen die Wahlbeteiligungen, die der Kern der demokratischen Teilhabe sind, zu wünschen übrig. Die Lage ist leider noch besorgniserregender: Kurz vor den Kommunal- und Europawahlen werden täglich Plakate zerstört, es werden Wahlhelfer und Wahlkämpfer beleidigt, bedroht, attackiert.
Die Demokratie braucht den starken Rechtsstaat
Was ist geschehen, dass Teile der Bevölkerung nicht nur ihren Respekt vor den Ritualen der Demokratie verloren haben, sondern sie sogar mit kriminellen Mitteln bekämpfen? Wie fühlen sich diejenigen, die sich ehrenamtlich in den Dienst des Gemeinwohls stellen, für die Parteien in den Wahlkampf ziehen und es jetzt mit der Angst zu tun bekommen? De facto braucht auch die kommunale Politik inzwischen Polizeischutz. Allein diese Feststellung unterstreicht, wo wir stehen.
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Die Rufe nach einem verschärften Strafrecht sind zwar richtig und wirken doch populistisch. Angriffe gegen die Politik, in welcher Form auch immer, hätten längst abschreckendere Strafen verdient. Der Staat tut seinen ehrenamtlichen Politikern den größten Gefallen, wenn er ihnen eine schnelle Justiz zur Seite stellt. Die Demokratie braucht den starken Rechtsstaat, sonst wird sie in Zukunft zu sehr mit Selbstverteidigung beschäftigt sein. Denn Feinde der Demokratie gibt es in diesem Land mehr, als uns recht sein kann. Manche wünschen sich ein autoritäres Staatsmodell, andere träumen gleich vom Kalifat.
Das Volk muss an seinem Selbstverständnis arbeiten - dafür braucht es aktive und aufgeklärte Bürger
Über das Erfolgsmodell Demokratie hat sich in den vergangenen Jahren unfreiwillig ein Mehltau aus Starre und Trägheit gelegt. Das Volk als staatlicher Souverän muss dringend an seinem Selbstverständnis arbeiten. Dafür braucht es aktive und aufgeklärte Bürger. Ein bundesweit verpflichtendes Schulfach Demokratie ab der ersten Klasse hätte da mehrere Effekte: zum einen eine gesellschaftlich tief verankerte Bildung über unser Staatswesen. Zum anderen eine dauerhafte, generationenübergreifende Debatte über Stärken und Schwächen des politischen Kompromisses. Obendrein würden wir ein allgemeines Wissen über den Wert des Grundgesetzes sicherstellen. Seine Artikel regeln nun einmal das Zusammenleben der Menschen in diesem Land, und bei allem, was heute daran nervt, schwerfällig ist oder erkennbar fehlt: Etwas Besseres hätte Deutschland nicht passieren können.
Karsten Kammholz, Chefredakteur Mannheimer Morgen
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel 75 Jahre Grundgesetz Jetzt brauchen wir das Schulfach "Demokratie"
Seit 75 Jahren regelt das Grundgesetz das Zusammenleben der Menschen in Deutschland. Aber das Verständnis für demokratische Werte und Zusammenhänge schwindet dramatisch. Das Bildungswesen muss dringend reagieren