Heidelberg. Frau Brantner, Sie arbeiten im Politbetrieb, gehören den Grünen an und sind auch noch eine Frau. Schlägt Ihnen deshalb besonders viel Hass entgegen?
Franziska Brantner: Das alles trägt natürlich dazu bei, dass auch ich eine zunehmend gewaltsame und aggressive Stimmung gegen politisch Aktive wahrnehme. Und gerade im Netz werden Frauen viel stärker und herabwürdigender behandelt als Männer. Das macht auch mir zu schaffen. Viele Grüne erleben eine zunehmend feindselige Haltung ihnen gegenüber. Wir stehen in der Statistik der Angriffe zwar auf dem ersten Platz, aber auch andere werden zu Opfern von Gewalt. Auch Attacken auf AfD-Politiker dürfen wir nicht akzeptieren.
Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kann nur noch mit Personenschutz Europawahlkampf machen.
Brantner: Sie können sich nicht vorstellen, welchen Attacken sie im Netz ausgesetzt ist. Dazu gehören auch viele Gewaltdrohungen mit sexistischen Beleidigungen. Das ist widerlich.
Die Grenze zwischen verbaler und physischer Gewalt wird immer brüchiger. Wir feiern jetzt 75 Jahre Grundgesetz, aber wie soll denn unsere Demokratie überleben, wenn der Beruf des Politikers im Extremfall lebensgefährlich wird?
Brantner: Wir alle müssen den demokratischen Raum schützen und erhalten. Die Demokratie lebt vom Streit, aber auch vom Kompromiss, beides gehört zusammen.
Der frühere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl haben sich zu ihren Zeiten auch hart gezofft.
Brantner: Sie haben sich aber danach die Hand gegeben. Ich streite auch gerne hart in der Sache. Es geht aber am Ende um Anstand und Respekt. Und das geht uns zunehmend verloren. Eine gute Kinderstube kann da nicht schaden. Es gibt aber noch eine zweite Entwicklung, die unsere Demokratie gefährden kann.
Welche denn?
Brantner: Für die demokratische Debatte ist es wichtig, dass wir zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz vor allem im Netz wird das zunehmend schwieriger. Da werden dann Fake-Videos von Wirtschaftsminister Robert Habeck gezeigt, mit Aussagen, die er nie gemacht hat.
Wie bei dem Video, in dem ihm die Aussage in den Mund gelegt wurde, dass jeder, der einen Esel als Fortbewegungsmittel einsetzt, künftig 30 Kilogramm Stroh vom Staat geschenkt bekommt.
Brantner: Ja, das sieht oft täuschend echt aus. Wie können wir dann aber noch einen vernünftigen Diskurs führen, wenn solche Videos auftauchen? Vor diesem Problem steht nicht nur die Politik, das gilt auch für Wirtschaft und Wissenschaft. Deshalb geht die EU jetzt voran mit ihrer Verordnung, um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu regeln. Wer ein Bild mit KI herstellt, muss das künftig transparent machen, zum Beispiel mit einem Wasserzeichen. Dann kann man zumindest bei den Qualitätsmedien sicher sein, ob das Bild, das man sich anschaut, ein Fotograf oder die KI gemacht hat.
Das wird doch die Desinformationskampagnen aus Russland und China nicht stoppen können. Hinkt die Politik nicht ständig der Entwicklung hinterher?
Brantner: Nein – wir haben in der EU das weltweit erste umfassende KI-Gesetz beschlossen, um mehr Transparenz zu schaffen und die EU hat schon vor ein paar Monaten einen gesetzlichen Rahmen verabschiedet gegen Desinformation, Hass und Hetze auf digitalen Plattformen. Die EU-Kommission hat auf dieser Grundlage bereits Verfahren gegen X, früher Twitter, und TikTok eingeleitet. Die müssen sich an Recht und Gesetz halten, sonst kann Brüssel hohe Strafen verhängen. Wir können die Gesetze auch nachschärfen, falls es notwendig sein wird. Und die EU geht natürlich gegen Desinformationskampagnen aus dem Ausland vor. Erst vergangene Woche hat sie die russische Propaganda-Plattform Voice of Europe gesperrt.
Demokratie-Abo - auf Dich kommt es an!
Anzeige
Hintergründig recherchiert, faktenbasiert, unabhängig: Wir schauen genau hin, wenn es Dich betrifft. Wir stellen Öffentlichkeit her, damit Du Dir selbst eine Meinung bilden kannst. Wir berichten, damit Du informiert Entscheidungen treffen kannst.
Lese 6 Monate MM+ und erhalte Zugriff auf alle Artikel unter mannheimer-morgen.de. Jetzt bestellen und 50 % sparen!
Ist es da nicht merkwürdig, dass ausgerechnet AfD-Politiker, die gerne vom „Vaterland“ reden, im Verdacht stehen, sie seien Vaterlandsverräter?
Brantner: Die Frage ist sehr berechtigt, für welches Vaterland die AfD denn eintritt. Offensichtlich nicht für unseres, denn wer steht denn im Verdacht, er würde für China Spionage betreiben und Gelder aus Russland annehmen? Der CDU-Politiker Jens Spahn hat das im Bundestag treffend thematisiert. Er bezeichnete die AfD als „vaterlandslose Gesellen“.
Die rechtsextremistischen Kräfte machen unsere Politiker und Parteien verächtlich. Ohne diese Akteure kann unsere repräsentative Demokratie nicht funktionieren.
Brantner: Absolut. Ich denke gerade in letzter Zeit oft an den alten Leitspruch des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Die Bürgerinnen und Bürger selbst haben die Verantwortung, ihre demokratischen Rechte und Pflichten so zu nutzen, dass auch die nächste Generation weiterhin in Freiheit und Frieden leben kann. Das ist eine große Aufgabe, die nicht alleine die Politiker oder die Ministerien, sondern die gesamte Gesellschaft übernehmen muss. Wir müssen unsere Freiheit gegen ihre Feinde verteidigen, nach innen und außen. Und in der Welt, in der wir gerade leben, ist das ein großer Kraftakt. Kein Sprint, sondern ein Marathon.
Wir haben uns in den vergangenen Jahren also zu sehr ausgeruht und geglaubt, dass es die Politik schon richten wird?
Brantner: Wir müssen wieder akzeptieren, dass der Frieden und die Freiheit in Deutschland und in Europa nicht gottgegeben sind.
Dass es wieder Krieg geben kann, wissen wir ja, seitdem Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine befohlen hat.
Brantner: Stimmt, aber denken Sie doch an die AfD, die weiterhin den Dexit propagiert, aus der EU aussteigen und zurück zum Europa der Nationalisten will! Die liberale Demokratie gerät gegenwärtig weltweit in die Defensive. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Feinde der Freiheit grenzüberschreitend sehr gut zusammenarbeiten. Wir müssen uns selbst mental darauf einstellen, dass wir durch dieses Jahrzehnt nur dann erfolgreich durchkommen, wenn wir Demokraten gemeinsam zusammenstehen. Damit wir am Ende sagen können: Wir haben unsere Freiheit und den Frieden gemeinsam erhalten.
Unser früherer Korrespondent Fritz René Alleman hat 1956 ein Buch veröffentlicht, dessen Titel als Zitat berühmt wurde: „Bonn ist nicht Weimar.“ Ist aber Berlin vielleicht Weimar?
Brantner: Nein, wir wissen, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Aber wir müssen aus ihr lernen, es liegt in unserer Hand. Wir sollten uns jetzt anlässlich des Gedenktags in Erinnerung rufen, dass wir das Grundgesetz nicht ohne eigene Anstrengungen mit Leben füllen können. Das fängt schon bei der Präambel an, die wir vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust lesen müssen.
Und?
Brantner: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt“, heißt es da, haben die Verfassungsväter und -mütter ihre Ziele formuliert. Die Bundesrepublik soll als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Am Anfang steht die Verantwortung für Europa und den Frieden. Das ist ein klarer Auftrag.
Franziska Brantner
Franziska Brantner wurde am 24. August 1979 in Lörrach geboren.
Brantner studierte Politikwissenschaften in Paris und New York und promovierte an der Universität Mannheim.
Bei der Europawahl 2009 gewann die Politikerin ein Mandat für die Grünen. Nach ihrem Wechsel von Straßburg nach Berlin ist sie seit 2013 Mitglied im Bundestag und vertritt dort den Wahlkreis Heidelberg. 2021 holte Brantner das Direktmandat für ihre Partei.
Franziska Brantner ist seit 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium und seit einigen Wochen Co-Vorsitzende der Grünen. was
1949 schien eine Wiedervereinigung Deutschlands natürlich noch in weiter Ferne.
Brantner: Die Wiedervereinigung verdanken wir ja auch der Tatsache, dass sich viele Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa für ihre Freiheit eingesetzt haben. Dass sich das inzwischen vereinigte Deutschland als EU-Mitglied für den Frieden einsetzen muss, hat also Verfassungsrang. Wie wichtig und aktuell das ist, sehen wir ja im Ukraine-Krieg. Wir müssen der Ukraine helfen, damit diese sich und die Freiheit in Europa verteidigen kann. Aber auch die EU und Deutschland müssen mehr für ihre Verteidigung tun.
Und wie wird die Berliner Republik am 100. Geburtstag aussehen?
Brantner: Ich bin optimistisch und hoffe, dass wir bis dann die schwierigen Zeiten gemeinsam bewältigt haben und unsere Demokratie bestehen kann. Und natürlich hoffe ich, dass wir dann eine europäische Verfassung haben.
Träumen Sie von den Vereinigten Staaten von Europa?
Brantner: Nein, ich bin für die Europäische Republik. Sie würde garantieren, dass im Zentrum die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger stehen. Das würde besser zur föderalen Struktur der Bundesrepublik passen als ein Staatenbund. Wir wollen nicht von den Nationen weggehen, sondern aus den Einzelteilen ein Mehr schaffen. Wie in der Bundesrepublik, in der die Bundesländer weiterhin eine zentrale Rolle haben.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/politik_artikel,-politik-franziska-brantner-wir-alle-muessen-unsere-freiheit-verteidigen-_arid,2208537.html