Es ist eine Frage, die in Deutschland gerade des Öfteren auftaucht und Kopfschütteln auslöst. Auch beim Treffen des früheren litauischen Parlamentsabgeordneten, Vizeaußenminister und Europaabgeordnete, Justas Vincas Paleckis, mit Bürgermeister Dr. Ralf Göck. Im Gegensatz zur deutschen, so hört man immer wieder, gehe es der russischen Wirtschaft blendend. Anders als von so vielen Politikern versprochen, wachse die russische Wirtschaft und die deutsche schrumpfe. Der Schluss liegt nahe, dass die Sanktionen gegen Russland doch nicht die Wunderwaffe des Westens gegen unliebsame Staaten sind.
Was stimmt: Laut dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wuchs die russische Wirtschaft 2023 mit 3,5 Prozent. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt sank um 0,1 Prozent. Der Blick allein auf diese Zahlen könnte also vermuten lassen, dass da tatsächlich etwas schief gelaufen ist. Doch Zahlen sind immer auch Politik und das gilt vor allem in autoritären Systemen. In Russland dürfte klar sein, dass sie sogar Teil der Kriegsführung sind.
Vor einem Jahr hat das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, dass es der Regierung erlaubt, Zahlen geheim zu halten oder eben zu verändern. Die Welt erfährt nur das, was sie auch erfahren soll. Trotzdem gibt es laut des Internationalen Währungsfonds Belege dafür, dass die russische Wirtschaft tatsächlich wächst.
Rüstungsindustrie ist Rückgrat der russischen Wirtschaft
Das Rückgrat dieses Wachstums ist neben Erdöl und Erdgas die Rüstungsindustrie. Vergangenes Jahr beliefen sich die Militärausgaben Russland laut dem renommierten schwedischen Forschungsinstitut Sipri auf über 80 Milliarden Euro. Das sind über vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für das laufende Jahr sind laut dem russischen Finanzministerium 106 Milliarden Euro eingeplant. Das wären dann über sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Damit würde die russische Regierung ein Drittel seines Budgets ins Militär stecken. Das treibt natürlich die Umsätze in der Rüstungsindustrie hoch. Und vermittelt gerade in der Hauptstadt Moskau das Bild eines blühenden Landes.
Doch der zivile Teil der Wirtschaft leidet. Vor allem weil die Zentralbank die Inflation nicht gesenkt bekommt. Sie liegt bei über sieben Prozent und der Leitzins bei 16 Prozent. Darüber hinaus werden Russlands Vorzeigeunternehmen aus der Öl- und Gasbranche durch den Zwang zum Umtausch von Fremdwährungen, Zölle und Besteuerung um ihre Rücklagen gebracht. Der russische Gasgigant „Gazprom“ wird, so die Einschätzung in der Duma, wohl ab dem kommenden Jahr Verluste schreiben.
Unter die Räder kommen auch die Menschen, die nicht in der Rüstungsindustrie arbeiten und vor allem außerhalb der Metropolen leben. Die anhaltend hohe Inflation raubt ihnen zunehmend Kaufkraft. Das Wirtschaftswachstum stammt also fast ausschließlich aus den Kriegsausgaben. Doch das ist keine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Ganz im Gegenteil. Am Ende schadet die absolut gesetzte Kriegswirtschaft allen anderen Teilen der Wirtschaft. Die russische Wirtschaft ähnelt dem Scheinriesen aus Michael Endes Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Aus der Ferne sieht er riesig aus. Doch je näher man ihm kommt und je genauer man hinschaut, desto kleiner ist er.
Einnahmen aus russischem Öl und Gas sprudeln
Es gibt aber noch einen zweiten Grund für die aktuelle Resilienz der russischen Wirtschaft und damit für die Fähigkeit die militärische Gewalt weiter fortzuführen. Die Einnahmen aus Öl und Gas sprudeln. 182 Milliarden Dollar stammten vergangenes Jahr aus den Ölverkäufen und weitere 48 Milliarden Dollar aus dem Gasverkauf. Nun haben sich nicht alle Staaten dieser Welt den Sanktionen angeschlossen und der Handel mit russischem Öl und Gas ist nicht verboten.
Doch auch in Europa kommen erhebliche Mengen dieser fossilen Rohstoffe an. Das geschieht auch illegal, weil andere Länder tricksen und betrügen. Aber es geschieht auch, weil Europa nicht so genau hinsieht. Denn es würde steigende Preise bedeuten und Wohlstand kosten. So sind Indien und die Türkei zu großen Drehkreuzen für Mineralölprodukten geworden. Das Rohöl wird in diese Länder verschifft und zu Diesel oder Benzin raffiniert, um dann legal in die EU und die USA exportiert zu werden.
Laut dem statistischen Bundesamt stiegen die Mineralölexporte aus der Türkei nach Deutschland von 20 000 Tonnen 2021 auf 290 000 im Jahr 2023. Und die Importe aus Indien stiegen im gleichen Zeitraum von 500 Tonnen auf über eine Million.
Beim Erdgas treten nach wie vor Österreich, Ungarn und die Slowakei als Käufer auf. Deutschland kauft russischen Dünger, der aus Erdgas gewonnen wird.
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