Brühl. Der Mann im Amtszimmer des Brühler Bürgermeister Dr. Ralf Göck wirkt zurückhaltend. Keiner, der sich nach vorne drängt und im Licht stehen muss. Über diesen eigentlich sympathischen Zug könnte man jedoch eine Art Schatz übersehen, der gerade aktuell einen Unterschied machen kann. Allein schon sein Lebenslauf lässt erahnen, dass da Wissen verborgen sein könnte, dass man in Europa gut gebrauchen kann. Ein Europa, das in seinen Augen vor wahrlich großen Herausforderungen steht, die es nur gemeinsam bestehen könne. Auf vieles hat er keine Antwort, aber eins sei sicher: „Entweder halten wir gemeinsam stand oder wir geraten einzeln unter die Räder.“
Die Rede ist von Justas Vincas Paleckis, geboren 1942 in Samara in der damaligen Sowjetunion. Aufgewachsen in Vilnius in Litauen studierte er erst Journalistik in seiner Heimatstadt und später Internationale Beziehung in Moskau. Von 1969 bis 1983 war er im diplomatischen Dienst in der DDR und der Schweiz. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war er von 1990 bis 1992 Mitglied im litauischen Parlament, von 2002 bis 2004 Vizeaußenminister Litauens und von 2004 bis 2014 gehörte er dem Europäischen Parlament an.
Was diese dürren Daten bedeuten, machte er auf Einladung des Vorsitzenden der Europa-Union Rhein-Neckar, Professor Dr. Gert Weisskirchen, im Brühler Rathaus klar. Er weiß, dass entfesselte Machtpolitik Freiheit und Sicherheit bedrohen. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung Litauens standen im Januar 1991 sowjetische Truppen vor dem Parlament, dem Seimas in der Hauptstadt Vilnius, und wollten die Frage der Unabhängigkeit beantworten – und zwar nicht im Sinne der Menschen in Litauen.
„Gerettet haben uns“, so Paleckis, „viele tausend Menschen, die den Seimas mit ihren Körpern geschützt haben.“ Der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow stoppte die Aggression gegen Litauen und der Weg in die Freiheit sei frei gewesen.
Justas Vincas Paleckis in Brühl: „Nur gemeinsam ist man stark“
Seines Wissens nach, haben sich damals auch einige Ukrainer an der Verteidigung des Seimas beteiligt. „Und Gert Weisskirchen war damals auch dabei.“ Heute trägt er den Titel Komtur des Ordens für Verdienste um Litauen und begleitet Paleckis zum informativen Gespräch im Brühler Rathaus.
Von 1976 bis 2009 war Weisskirchen für den Rhein-Neckar-Kreis Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war von 1976 bis 1980 stellvertretender Obmann und von 1980 bis 1983 Obmann der SPD-Fraktion im Bundestagsausschuss für Bildung und Wissenschaft. Von 1987 bis 1990 leitete Weisskirchen die Arbeitsgruppe Rüstungskonversion der SPD-Bundestagsfraktion und war gleichzeitig Obmann in der Enquête-Kommission „Bildung 2000“. Von 1993 bis 1998 war er Sprecher der Fraktionsarbeitsgruppe Vereinte Nationen und von 1998 bis 1999 Fraktionssprecher für Kultur und Medien. Von 1999 bis 2009 war der SPD-Mann Sprecher der Fraktionsarbeitsgruppe Außenpolitik. Gert Weisskirchen ist stets über die Landesliste Baden-Württemberg in den Bundestag eingezogen.
Damals wie heute gelte, so Paleckis, „nur gemeinsam ist man stark“. Er ist überzeugt davon, dass die Ukraine den Westen braucht, um gegen die russische Aggression bestehen zu können. In Litauen sei die Hilfe, genau wie in Deutschland, nach einer ersten Schockstarre groß gewesen. Besonders sei dabei, dass auch die russlandstämmigen Litauer, immerhin rund fünf Prozent der Bevölkerung, an der Seite der Ukraine stehen würden, fasst Paleckis seine Erfahrungen beim Gespräch im Brühler Rathaus zusammen.
Deutschland habe Verantwortung übernommen
Gefreut habe sich Paleckis, dass Deutschland seine Verantwortung angenommen habe. Das sei zu sehen an der Verlegung eines deutschen Bataillons nach Litauen. Und zwar nicht wie bisher im Rotationsprinzip, sondern ständig. „Ein wichtiges Zeichen für die drei baltischen Staaten“, so der Litauer gegenüber dem Brühler Rathauschef.
Auf sein Geburtsland schaut er mit traurigen Augen. Die Angst gehe in dem Land um und habe fast alles erstickt. Ein Lebenszeichen eines anderen Russlands durfte man bei der Beerdigung des mutmaßlich vom russischen Staatsapparat ermordeten Oppositionspolitikers Alexei Nawalnys erleben. Dass doch so viele den Mut zur Trauer gefunden hätten, zeige aus Paleckis’ Sicht zumindest, dass es ein anderes Russland gebe. Vereinzelt gebe es auch noch Opposition.
Paleckis über Wladimir Putin: „Ein kaltblütiger Stratege“
Aber, und da machte er sich keine Illusionen, die Mehrheit der Russen stehe, aus welchen Gründen auch immer, weiterhin hinter dem Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin. Der übrigens alles andere als verrückt sei. „Er ist ein kluger und vor allem kaltblütiger Stratege.“
Für die Ukraine bedeute das, dass die internationale Unterstützung maximal sein müsse. „Putin in seine Schranken zu weisen, bedarf unser aller Anstrengung“, sagt Paleckis. Dabei denke er auch an die Wirtschaftssanktionen, die nach wie vor große Löcher hätten und Putin die Finanzierung seines Krieges erlaubten. Und am Ende würden Verhandlungen stehen, meint Paleckis im Gespräch mit Bürgermeister Göck, sicher auch schmerzhafte Verhandlungen für die Ukraine, aber sie müssten aus einer Position der Stärke erfolgen. Kompromisse bräuchten Augenhöhe.
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