Brühl. Der Mann war ein Ereignis. Kabarett über zwei Stunden auf diesem Niveau gibt es nicht alle Tage. Die Kunst, so gewaltig, bissig und zugleich gezielt zuzuschlagen, ließ hier in der Villa Meixner jedenfalls aufhorchen. Dabei wandte sich René Sydow in seinem Programm „Heimsuchung“ nicht nur den vermeintlich Mächtigen zu. Im Gegenteil, gekonnt hielt er uns allen den Spiegel vor und entblößte kleine und große Lebenslügen und Heucheleien wie kaum ein anderer. Auf hoher See wäre er ein Freibeuter, der es versteht Breitseiten abzufeuern und zwar zugleich in alle Richtungen. Wobei er seine Kanonen wie ein Florett zu bedienen vermag. Ein Treffer nach dem anderen. Und es waren Treffer, die sehr nachdenklich machten. Wir stehen in Deutschland vor einigen Problemen, doch für echte Schritte nach vorne scheinen die Deutschen, „dieses ängstliche Volk“, keinen Mut zu haben. Kabarett mit Sydow macht nicht freudestrahlend glücklich. Aber klüger und wenn es richtig gut läuft, auch etwas mutiger.
Gleich zu Beginn wandte er sich den Politikern zu. Und zwar allen. Jens Spahn, Karl Lauterbach, Andreas Scheuer, Annalena Baerbock, Olav Scholz, Robert Habeck, Friedrich Merz und dann noch die AfD. Für ihn fast durchweg ein Meer aus Schrumpfköpfen. Politisches Handeln habe derzeit kaum Erkenntnisse als Grundlage. Der Pflegenotstand sei beispielsweise ein politisches Handwerksproblem. Corona habe das alles nur noch greller ausgeleuchtet. Überhaupt, systemrelevante Berufe, die einen deutlichen Unterschied markierten, wie Erzieherin, Putzmann, Müllabfuhr oder Pflegerin, würden von Politik und Gesellschaft im Grund ständig geringgeschätzt. Und wenn es hart auf hart komme, glaube man, mit etwas Klatschen aus der Sache rauszukommen. Zugleich würden Unternehmensberater und Aktienhändler ob ihres finanziellen Erfolgs bewundert. Leistung und Reichtum hätten sich komplett entkoppelt. Das Unnütze stehe im Licht und das Nützliche im Schatten. Das sei so schräg, dass langfristig niemand darauf stehen könne. Und eine anständige Gesellschaft sei unter solchen Bedingungen unmöglich.
Auch Frauen bieten keine Lösung
Egal wohin Sydow sein Blick wandte. Überall Schaumschläger und Heuchler. Konzerne die sich Diversität auf die Fahne schreiben und doch nur komplett marktkonforme und unkritische Untertanen suchen. Das äußerliche Aussehen degeneriere in dieser durchliberalisierten Wirtschaftswelt für die Unternehmen zum Schmuck. Und das marketingkonforme Gendern lenke von den eigentlichen Problemen wie unanständige Bezahlung und Umweltverschmutzung ab. Die Probleme und die Ablenkung davon sei oft „männergemacht“. Doch leider böten auch die Frauen keine Lösung. Gerade weil es immer in die Mitte gehen soll, um anschlussfähig zu sein. „Doch vielleicht ist die Mitte der Schnittpunkt zweier Irrwege.“ Denn diese Mitte steht in Sydows Augen für eine weitere Biedermeier-Epoche. Nur, dass die Digitalisierung den Rückzug in diese heile Welt noch einfacher mache. Unter diesem Biedermeier-Dach mit seinen Fundamenten aus Angst gebe es dann mit spießig und beleidigt nur noch zwei relevante Ich-Zustände. Und die beiden stünden intelligenten Entwicklungen eher im Weg, als dass sie sie beförderten.
„Wir leben so lange wie nie, aber das Leben davor ist sterbenslangweilig.“ Dem Mann ging es nicht um Verharmlosung. Aber alles der Sicherheit unterzuordnen könne gefährlich sein. Aristoteles hat gesagt, wer die Sicherheit der Freiheit vorziehe, sei bereits ein Sklave. Natürlich müsse dieser Satz gewogen werden. Aber als Fixstern für die eigene Ausrichtung sollte man ihn im Kopf haben. Und dann sei vor dem Hintergrund der vergangenen Monate die Frage gestattet, wo sind die Bemühungen, die rund 40 Millionen Menschen zu retten, die jedes Jahr verhungern. Am Ende konstatierte Sydow, fehle es überall an echtem Willen, um wirklich etwas zum Besseren zu verändern. In der Welt der vielen „Ichs“ sei sich jeder selbst der Nächste und Wichtigste. In der Kombination mit der immer größer werdenden Ängstlichkeit sei der Rückzug ins Ikea-gemütliche mit Netflix ausgestattete Heim zwar bedauerlich, aber erwartbar. Leider stimme dann aber auch der Satz des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard: „Ausgerechnet der Mensch ist unmenschlich.“ Schön wäre, dem Satz seines Opas käme mehr Allgemeingültigkeit zu. „Wir sollten uns nicht so wichtig nehmen. Gegen die Galaxis sind wir ein Witz.“ Sydow zuzuhören machte wahrlich nicht fröhlich. Aber die Tiefe, die Klarheit und enorme Eloquenz könnte ein Feuer entzünden, das die Angst in die Schranken weist und dem Mut Platz verschafft. Vielleicht ändert sich dann wirklich etwas. Hoffen darf man immer.
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