Welttag des alkoholgeschädigten Kindes: Einblick in das Leben von Anton und seiner Brühler Pflegefamilie

Alkoholkonsum schadet dem ungeborenen Kind ebenso wie dem Säugling – diese Erkenntnis veranlasst die meisten Mütter zu einem Verzicht auf Alkohol während der Schwangerschaft und der darauffolgenden Stillzeit. Doch es gibt auch Mütter, die das nicht wollen oder können – ihre Kinder erleiden oft eine Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD). Daran wird seit dem 9.9.1999 alljährlich erinnert.  

Von 
Ralf Strauch
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Ein Gläschen Sekt – was soll’s? Jeder Schluck Alkohol in der Schwangerschaft ist einer zu viel. Obwohl die Schädigung die Be-troffenen ein Leben lang begleiten und viel Leid verursachen kann, ist das fetale Alkoholsyndrom in der Öffentlichkeit kaum bekannt. An diesem 9. September wird deshalb alljährlich weltweit daran erinnert. © dpa

Brühl. Anton rast durch den Garten, klettert seinen Spielturm nach oben, schießt von da den Ball durch die Luft. Der Brühler Junge scheint keine Rücksichtnahme auf sich und andere zu kennen. Der Grund für seine gesteigerte Aktivität: Seine Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken – nicht einmal in besonders großen Mengen, einfach nur hin und wieder. Und damit wurde Anton zum alkoholgeschädigten Kind.

Auf seine Thematik, die zahlreiche Menschen betrifft, soll an diesem Samstag, 9. September, in vielen Ländern am internationalen Welttag des alkoholgeschädigten Kindes hingewiesen werden. Das Datum wurde gewählt, weil die Probleme in den neun Monaten der Schwangerschaft entstehen – deshalb gab es den Welttag des alkoholgeschädigten Kindes erstmals am 9.9.99. In Europa trinken zwischen 14,4 und 30 Prozent der Schwangeren wiederholt Alkohol, obwohl sie wissen, dass dies ihrem Kind schadet.

Anton wird seit sieben Jahren von Brühler Familie betreut

Es reiche eben nicht nur, mit einem Piktogramm und dem kleingedruckten Hinweis auf die Gefahren für Mutter und Kind hinzuweisen, meint die Brühlerin Daniela, in deren Familie Anton seit sieben Jahren betreut wird. Die Namen der Pflegemutter und des Kindes wurde von der Redaktion geändert.

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Es ist eine schwierige Situation für das Umfeld von Kindern und Jugendlichen, die mit alkoholbedingten Schäden auf die Welt kommen und zeitlebens das Krankheitsbild Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) haben. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind das allein in Deutschland jährlich etwa 10 000 Babys, davon rund 1100 in Baden-Württemberg. Sie haben meist körperliche Fehlbildungen wie Kleinwuchs, Untergewicht, Gesichtsauffälligkeiten, geistige Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen und extreme Verhaltensauffälligkeiten.

Da nicht jedes Kind erkrankt, wenn die Mutter während der Schwangerschaft alkoholische Getränke zu sich nimmt, vertrauen viele darauf, dass auch bei ihrem Kind keine Probleme auftreten werden. Andere blenden die möglichen Risiken einfach aus.

FASD begleitet den Menschen ein Leben lang

Das Ausmaß der FASD zu begreifen, ist der Schlüssel dazu, betroffenen Kindern ein passendes schulisches Angebot zur Verfügung zu stellen. Es wird davon ausgegangen, dass viele FASD-Kinder einen Schulabschluss absolvieren könnten, sofern ihnen Raum für ihre Bedürfnisse eingeräumt werden würde. Lehrstile und Methoden, Klassenräume sowie Ablaufstrukturen müssen dazu bewusst angepasst werden. Doch damit sind Regelschulen schlicht überfordert.

Weitere Informationen

  • Beim Informationsportal des FASD Deutschland, www.fasd-deutschland.de, können sich Betroffene und Familien über Hilfen, Aufklärung, Beratung, verschiedene Materialien und Unterstützung informieren.
  • Über Risikogruppen berichtet auch www.kinderaerzte-im-netz.de unter den Suchbegriffen Krankheit und Fetales Alkoholsyndrom.
  • Weitere Informationen von den Brühler Pflegeeltern von Anton gibt es unter www.bravesluemmelchen.de.
  • Ansprechpartner bei Alkoholerkrankungen sind in Schwetzingen die Außenstelle der Suchtberatung, Telefon 06202/ 8 59 35 80, und das Zentrum für Psychische Gesundheit Schwetzingen, Telefon 06202/ 84 80 20. ras

„Jeder Schluck Alkohol in der Schwangerschaft ist einer zu viel. Obwohl die Schädigung die Betroffenen ein Leben lang begleitet und viel Leid verursacht, ist sie in der Öffentlichkeit kaum bekannt“, erklärt Daniela. „Es kursiert noch immer das gefährliche Märchen, dass ein Schluck nichts schade. Aber genau das ist der fatale Irrtum“, macht sie deutlich. Und sie weiß ein Lied von den Folgen zu singen, denn ihr Pflegesohn macht es ihr nicht einfach. Nicht weil er es will, sondern weil er nicht anders kann.

Bereits ein Glas Alkohol reiche aus, um einem ungeborenen Kind zu schaden. Weil der Alkohol über die Plazenta ungehindert in den Blutkreislauf des Babys gelangt, hat es schnell den gleichen Blutalkoholpegel wie die Mutter. „Ungeborene benötigen aber bis zu zehnmal länger, um den Alkohol abzubauen. Er bleibt also deutlich länger im Körper und kann als Zellgift dauerhafte geistige und körperliche Schäden anrichten“, erklären Experten. Beim Embryo kann der mütterliche Alkoholkonsum ausgeprägte Störungen der geistigen, körperlichen und seelischen Entwicklung auslösen. Mit diesen Schäden haben das Kind, der junge Mensch und der Erwachsene ein Leben lang zu kämpfen.

Es fällt den betroffenen Menschen schwer, sich im Alltag zurechtzufinden, ihre Aufgaben zu meistern, Regeln einzuhalten, zu verstehen, was das Umfeld von ihnen will. Sie werden oft missverstanden und falsch beurteilt. Den wenigsten sieht man FASD an, die meisten verstehen und wissen nicht, was mit ihnen los ist. Langfristig führt das Nichterkennen der Beeinträchtigung zu Sekundärstörungen – von Schulabbrüchen, Depressionen, Schuldgefühlen, Obdachlosigkeit, selbstverletzendem Verhalten bis zur Suizidalität.

Emotional verunsichert

Auch wenn ein Kind zum Geburtszeitpunkt unauffällig erscheint, können sich zu einem späteren Zeitpunkt je nach Schweregrad der Krankheit Zeichen einer bleibenden Schädigung herausstellen, die auf den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Oft haben die Kinder mit Konzentrationsschwächen und einer verzögerten Sprachentwicklung zu kämpfen oder haben ein gestörtes Sozialverhalten. Durch eine oftmals verzerrte Wahrnehmung erkennen sie ihr Bedürfnis nach regelmäßiger Erholung, Aktivität, Trinken, Essen, oder Toilettengängen nicht. Auch ist ihr Kälte- und Wärmeempfinden oftmals gestört. „Anton würde sich ständig selber überfordern. Er kann selber nicht erkennen, wann er genug gearbeitet hat.“

Kinder mit FASD haben das soziale Bedürfnis nach Freundschaft und Gemeinschaft, in der sie Akzeptanz und Anerkennung erfahren. Oftmals sind sie jedoch sozial und emotional verunsichert. Sie haben Schwierigkeiten, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren oder nachvollziehbar zu erklären. Aus Fehlern können sie schwer lernen, da sie oftmals ein gestörtes Verständnis von Ursachen-Wirkungs-Zusammenhängen haben. So werden Konsequenzen häufig nicht in Zusammenhang mit dem Fehlverhalten gebracht und daher nur schwer verstanden. Auch wenn sie längst dem Kindesalter entwachsen sind. Nicht selten kommt es zu Wutanfällen, Aggressionen oder Ängsten.

„Ich fühle mich dann in meinen Gefühlen gefangen, schreie und trete, anfangs spuckte ich auch“
Anton, leidet an FASD

„Meistens ist er sehr gut gelaunt“, berichtet Pflegemutter Daniela, „er ist laut, impulsiv und lacht viel“. Es gibt aber auch die Momente, in denen er wütend und bockig wird. Es kann eine Kleinigkeit sein, die ihm missfällt oder auch eine in seinen Augen große Ungerechtigkeit. „Ich fühle mich dann in meinen Gefühlen gefangen, schreie und trete, anfangs spuckte ich auch“, berichtet Anton.

Seine Bewegungslust ist kaum zu bremsen – oft geht es über eine eigentliche Schmerzgrenze hinaus. Anton kennt keine Angst vor Gefahren – ein typisches Thema bei Kindern mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen. Und ein typisches Risiko fürs Leben, das oft an der Grenze verläuft. Seinen Bewegungsdrang still Anton beim Fußballspielen.

Bedürfnis nach Sicherheit bei FASD-Erkrankten sehr ausgeprägt

Das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit ist besonders ausgeprägt. Kinder mit FASD haben verstärkt das Bedürfnis nach einer klaren Struktur, Beständigkeit und Grenzen. „Ganz hoch in seinem Kurs stehen seine Besitztümer“, sagt Daniela, „Anton will immer etwas haben“. Wenn er etwas nicht bekommt, reagiert er mit trotzigem Unverständnis. Was ihn im Unterschied zu anderen Kindern immer begleitet, das sind Besuche bei Therapeuten und Ärzten. Feste Termine wie Ergotherapie oder Logopädie gehören dazu. Und auch, wenn Anton zehn Jahre alt ist, kann man nicht vorhersagen, ob und wann das aufhören könnte.

Ein völliger Verzicht auf Alkohol in den Monaten der Schwangerschaft ist das einzig Richtige, da man nicht genau weiß, welche Menge Alkohol zu welchem Zeitpunkt welchen Schaden im ungeboren Kind anrichtet. Selbst kleine Mengen Alkohol haben das Potenzial zu schädigen. Nur durch den völligen Verzicht auf Alkohol während der Schwangerschaft sind angeborene Alkoholschäden vermeidbar.

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Und plötzlich dreht sich wieder alles um Anton, wir müssen das Gespräch beenden. Ganz wichtig für ihn sind feste Zeiten und Rituale. Er komme total durcheinander, wenn die Familie schnell mal etwas erledigen müssen. Das muss vorher gut geplant sein.

Und genau jetzt muss Anton ins Bett, da gibt es keinen Aufschub. Auch nicht beim Gespräch mit unserer Zeitung. „Am Abend gehen wir gemeinsam in mein Bett. Jeden Abend singen wir ganz viele Schlaflieder, am liebsten mag er ,Wer hat die schönsten Schäfchen’ hören, verrät seine Pflegemutter.

Vorher gibt es eine Geschichte aus immer dem selben Buch. „Wir erzählen uns gemeinsam, was am Tag das Beste war und auch was doof war und dann erzählt mir Mami, was wir am nächsten Tag vorhaben werden.“

Redaktion

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