Brühl/München. Professorin Dr. Monika Schnitzer, geboren in Mannheim und aufgewachsen in Brühl, ist heute Wirtschaftswissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2020 Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, also die Chefin der fünf Wirtschaftsweisen. Einem Gremium, das die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen berät. Wir sprachen mit ihr über frühe Prägungen und ihre daraus entstandenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen.
Wann und wie lange haben sie in Brühl gewohnt?
Dr. Monika Schnitzer: Ich bin 1962 im Alter von einem Jahr mit meinen Eltern und Geschwistern von Mannheim nach Brühl gezogen und habe bis 1981 dort gewohnt. In Rohrhof bin ich zur Grundschule gegangen. Anschließend war ich zunächst auf dem Hebel-Gymnasium Schwetzingen und in der Oberstufe wechselte ich ans Bach-Gymnasium in Mannheim-Neckarau, wo ich Abitur gemacht habe. Dann bin ich zum Studium nach Köln gegangen, aber natürlich war ich oft zu Besuch bei meinen Eltern, später auch mit den Kindern, die mit den Großeltern die Brühler Spielplätze entdeckt haben.
Gibt es heute noch Ihnen wichtige Menschen in Brühl?
Schnitzer: Die wichtigsten waren meine Eltern, aber die sind inzwischen leider verstorben.
Glauben Sie an eine Art Prägung der frühen Jahre und wie sieht diese bei Ihnen aus?
Schnitzer: Unbedingt. Geprägt hat mich die Landschaft, ich bin ein großer Fan des Rheins und der Rheinauen. Weniger toll waren die Stechmücken, bei uns Schnaken genannt, aber die gibt es zum Glück nicht mehr. Geprägt haben mich auch die Aktivitäten in der katholischen Jugend – zusammen mit sieben anderen Mädchen und jungen Frauen haben wir die erste weibliche Lektorengruppe aufgemacht. Und meine ersten Versuche, mich politisch zu engagieren, habe ich bei der „Aktion Jugendzentrum“ in Brühl gemacht. Leider erfolglos, ein Jugendzentrum wurde zumindest in meiner Jugendzeit nicht eingerichtet.
Nach dem Start in Brühl, wohin führte Sie Ihre Reise?
Schnitzer: Ich zog nach Köln (am Rhein!), um dort zu studieren, später dann weiter nach Bonn (am Rhein!) und schließlich nach München, wo ich heute als Professorin tätig bin. Mit vielen Abstechern ins Ausland, erst nach London und dann vor allem immer wieder in die Vereinigten Staaten, an die Ost- und an die Westküste.
An welche der Stationen denken Sie heute noch mit einem Lächeln zurück?
Schnitzer: Eigentlich an alle, ich war immer neugierig darauf, neue Städte zu entdecken und neue Menschen kennenzulernen.
Sie sind schon lange im Beratungsgeschäft. Expertenkommission Forschung und Innovation, Expertenkommission Wettbewerbsrecht 4.0, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und nun seit wenigen Monaten Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Welchen Stellenwert kommt ihrer Meinung nach der Beratung zu?
Schnitzer: Gerade in den aktuellen Krisen erleben wir, wie wichtig die Arbeit in der Politikberatung ist. Für viele der aktuellen Aufgaben und Probleme gibt es keine fertigen Rezepte. Um so mehr werden wir zu Gesprächen und Beratungen eingeladen, von der Politik, aber auch von den Medien. Denn unsere Aufgabe im Sachverständigenrat ist es ja nicht nur, die Politik zu beraten, sondern auch die Öffentlichkeit zu informieren.
Was kann die Beratung und vor allem, wo finden sich ihre Grenzen?
Schnitzer: Unser Beitrag ist es, die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Erfahrungen in aller Welt zusammenzutragen und daraus möglichst unparteilich praxistaugliche Vorschläge für die aktuellen Probleme zu entwickeln. Was mit diesen Vorschlägen geschieht, ob und wie sie umgesetzt werden, das ist die Verantwortung der Politiker, die dafür gewählt werden.
Seit der Corona-Zeit aber auch im Kontext des Klimawandels wird wissenschaftliche Beratung ja durchaus kontrovers diskutiert, zu Recht?
Schnitzer: Was vielen vielleicht nicht so klar ist: Wissenschaft ist ein fortwährender Erkenntnisprozess, gerade wenn man mit einem ganz neuen Phänomen wie der Corona-Pandemie konfrontiert ist. Da gab es zu Beginn nur wenige gesicherte Erkenntnisse, und deshalb wurden die Empfehlungen mit fortschreitenden Erkenntnissen auch immer wieder revidiert und angepasst. Das haben manche genutzt, um einzelne Wissenschaftler oder gar die Wissenschaft an sich infrage zu stellen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Das ist unredlich und erweist der Sache einen Bärendienst.
Wie sehr setzen Ihnen wissenschaftsfeindliche, gegen jede Empirie stehende, Aussagen zu?
Schnitzer: Man muss schon etwas aushalten können, die Reaktionen sind manchmal unter der Gürtellinie, keine Frage. Aber es ist natürlich auch unsere Aufgabe als Wissenschaftler immer noch besser zu erklären, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse belegen – und was nicht. Das ist in den üblichen Drei-Minuten-Interviews allerdings schwer zu schaffen.
Und was tun Sie dagegen?
Schnitzer: Ich versuche, ganz unterschiedliche Formate zu nutzen und ganz unterschiedliche Menschen zu erreichen. Am wichtigsten scheint mir, immer wieder deutlich zu machen, dass wir Wissenschaft nicht als Selbstzweck, sondern für die Menschen machen, weil wir mit neuen Erkenntnissen den Menschen helfen können, auch wenn das manchmal ein langer Weg ist.
Was sind Ihre wirtschaftswissenschaftlichen Grundsätze?
Schnitzer: Der wichtigste Grundsatz für mich ist Transparenz: Über die Annahmen, die der Analyse zugrunde liegen, auch die impliziten, über die gewählten Methoden, über die Belastbarkeit der Schlussfolgerungen, über die möglichen Grenzen der Analyse. Nur diese Transparenz erlaubt es anderen Wissenschaftlern, die Ergebnisse zu überprüfen und infrage zu stellen. In diesem Prozess von wechselseitigem Infragestellen und Überprüfungen entsteht wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt.
Erleben wir auch eine wirtschaftspolitische Zeitenwende – frei nach dem amerikanischen Politphilosophen Michael J. Sandel gefragt: Braucht der Markt moralische und auch ökologische Grenzen?
Schnitzer: Natürlich braucht der Markt Grenzen, weil er nie perfekt funktionieren kann. In meiner Einführungsvorlesung verwende ich die meiste Zeit darauf, solche Grenzen zu diskutieren. Wenn wirtschaftliches Handeln anderen Menschen oder Unternehmen Schaden zufügt, wenn die verschiedenen Marktteilnehmer unterschiedliche Informationen haben, wenn es Marktmacht gibt, in all diesen Fällen führt der Markt nicht zu effizienten Ergebnissen. Dann braucht es korrigierendes staatliches Eingreifen, also Grenzen. Das umfasst auf alle Fälle die ökologischen Grenzen. Denn durch umweltschädliches Verhalten werden die nächsten Generationen beeinträchtigt, deshalb wurde zum Beispiel ein CO2-Preis eingeführt. Moralische Grenzen sind typischerweise nicht Gegenstand unseres Faches. Dabei geht es ja vor allem darum, wie verschiedene Marktergebnisse bewertet werden sollen. Das erfordert einen philosophischen und gesellschaftlichen Diskurs, der über unser Fach hinausgeht.
Sind Klimawandel und Artensterben in Ihren Augen eine Gefahr für das Wirtschaftssystem?
Schnitzer: Sie sind eine Gefahr für uns Menschen, für unsere Kinder und Enkelkinder und alle künftigen Generationen. Die Herausforderung ist, unsere Wirtschaft so anzupassen, dass wir die Welt auch für die kommenden Generationen lebenswert erhalten.
Glauben Sie, dass Nachhaltigkeit und Wachstum in konsumgestützten Industriegesellschaften vereinbar sind?
Schnitzer: Wenn man es richtig anstellt, dann schon. Wachstum bedeutet nicht automatisch mehr Ressourcenverbrauch, es bedeutet zunächst, dass mehr Wert geschaffen wird. Das können Güter sein, aber auch Dienstleistungen. Ein zusätzlicher Yogakurs verbraucht wenig Ressourcen, aber stiftet den Menschen, die daran teilnehmen, Nutzen, er schafft einen Mehrwert. Den Wert von besserer Medizin, man denke nur an die Covid-Impfstoffe, haben wir gerade erlebt. Um Nachhaltigkeit und Wachstum in Einklang zu bringen, müssen wir dafür sorgen, dass die Ressourcen einen Preis haben, der verhindert, dass wir sie übernutzen. Dann passen sich die Menschen und die Unternehmen automatisch an.
Wie stehen Sie zu Einschränkungen der Freiheit, wie Inlandsflugverbot und Tempolimit?
Schnitzer: Solange Inlandsflüge preiswerter und zuverlässiger sind als Reisen mit der Bahn, muss man sich nicht wundern, wenn die Menschen nicht von selbst umsteigen. Statt sie zu verbieten, könnte man sie teurer machen. Vielleicht braucht es aber ein Verbot, damit endlich klar ist: Die Bahn muss viel mehr investieren und ihr Angebot ausbauen.
Und Tempolimit?
Schnitzer: Es ist schon interessant, welche Vorstellungen von Freiheit es in unterschiedlichen Ländern gibt. Bei uns ist das Tragen von Waffen verboten, aber auf der Autobahn darf jeder so schnell fahren, wie er will. In den Vereinigten Staaten, dem Inbegriff des Landes der Freiheit, darf jeder Schusswaffen kaufen und tragen, aber auf der Autobahn herrscht ein sehr rigides Tempolimit. Studien zeigen: Ein Tempolimit reduziert den Schadstoffausstoß deutlich. Für mich persönlich ebenfalls wichtig: Es reduziert den Stress auf der Autobahn. Ich bin viel auf amerikanischen Straßen mit dem Auto unterwegs gewesen. Dort kommt man auch ans Ziel und das deutlich entspannter.
Und zum Schluss, glauben Sie, dass Bundeskanzler Olaf Scholz recht hat, wenn er erklärt, dass Verzicht im Kontext des Klimawandels nicht notwendig sein wird?
Schnitzer: Ich sehe es nicht als Verzicht an, wenn wir uns bemühen, achtsamer mit den Ressourcen umzugehen. Als Kind bin ich von meiner Mutter mit dem Einkaufsbeutel zum Einkaufen um die Ecke geschickt worden. Später kamen die Plastiktüten. Heute habe ich wieder eine Einkaufstasche dabei. Das ist für mich kein Verzicht.
Öfter mit dem Fahrrad zu fahren statt mit dem Auto, die Treppe zu nutzen, statt den Fahrstuhl, das ist alles kein Verzicht, sondern für die Gesundheit sogar eine Bereicherung!
Wenn wir uns unser Leben und unsere Konsumgewohnheiten ein bisschen genauer anschauen, werden wir schnell feststellen, dass es gar nicht so schwer ist, sich umzustellen.
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