Hockenheim. Es ist eine Geschichte der Ohnmacht in wirren Zeiten, eine Frau auf der Suche, eine Welt im Chaos – Künstlervita und gesellschaftskritischer Rundumschlag: Der in Wien geborene Komponist, Sänger und Dichter Georg Kreisler, der vor zwei Jahren hundert geworden wäre, hat der Welt großartige, durch Mark und Bein gehende Lieder und Texte hinterlassen.
Das „Ein-Frau-Musical“ „Heute Abend – Lola Blau“ gehört zu den Klassikern des Zeitgeist-Abrechners: Die Teil-Biografie einer jungen jüdischen Künstlerin, die im Österreich der ausgehenden 1930er-Jahre „unter gegenwärtigen Umständen“ abgewiesen wird, macht in Amerika Karriere, erlebt Erfolg und Glamour auf den Bühnen von Luxus-Kreuzfahrtschiffen, bleibt aber doch immer eine Getriebene. Als sie nach dem Krieg für ihre große Liebe Leo, der das KZ überlebt hat, nach Wien zurückkehrt, kulminiert die stets latente Melancholie zu einer bitteren Abrechnung mit dem von Ewiggestrigen getragenen Unveränderten: „So sitz ich nach wie vor hier fest und singe Lieder, Und bleibe wirkungslos vom eignen Klang berauscht.“
Mit wenig Requisiten: Ein abendfüllendes Musical in Hockenheim
Kreislers abendfüllendes Musical, dessen Aktualität auf erschreckende Weise nie gebrochen wieder zunimmt, gab am vergangenen Freitagabend die in Wiesbaden geborene, heute in Gießen lebende Schauspielerin Irina Ries. Mit wenigen Requisiten, von denen viele einfach umfunktioniert werden, verwandelte sie zusammen mit Christian Keul an den Tasten die Pumpwerk-Bühne in die internationalen Schauplätze der hinter nur oberflächlich als „Story“ getarnten persönlichen Innenansichten, die – durch den schwarzen, tiefsinnigen Humor und den genialen Sprachwitz Kreislers – gleichzeitig zu einer beißenden Kritik an den Gegenwärtigkeiten wird: Eine Lampe wird zum Telefon, der Notenständer zum Mikro, der Bleistift zur Zigarette.
Die Absolventin der Münchner Theaterakademie August Everding hat mit ihrer eigenen Interpretation des seinerzeit Kreislers Ehefrau Topsy Küppers auf den Leib geschriebenen, 1971 uraufgeführten Werks den Blick ganz auf die Figur gerichtet, die sie dann allerdings in weiten Passagen vor allem als naiven Charakter verkörpert. Ihr Spiel ist erfrischend, gleitet aber bisweilen ins Fahrige ab. Bemerkenswertes Highlight des rund zweistündigen Abends: Ries ausführliche Charakterstudie der „Frau Schmidt“.
„Denn die Zeiten ändern sich, Pleiten ändern sich, Mächte ändern sich, Knechte ändern sich – was sich niemals ändert, ist die Frau Schmidt!“ hämmert sie mit viel Witz, aber auch viel Nachdruck ins Volk. Hier zeigt die vielseitige Künstlerin, was sie eigentlich kann: Lebhaft, bunt und facettenreich ist ihre Frau Schmidt, die sogar die legendäre Küppers-Aufnahme oder die kurz danach erschienene Barbara-Peters-Interpretation übertrifft. Warum das nicht zum Beispiel auch beim ähnlich strukturierten „Im Theater ist nichts los“ gelingt, bleibt ein Rätsel – hier konnten die Hockenheimer vor 14 Tagen Marc Rudolf mit einer grandiosen Umsetzung sehen und hören.
Lola Blau in Hockenheim: Fehlt die emotionale Achterbahnfahrt?
Insgesamt bleibt Irina Ries über weite Strecken zu eindimensional. Die als emotionale Achterbahn angelegte „Lola Blau“ vermisst man ein wenig: Die hoffnungsvolle Euphorie aus dem Anfang („Im Theater ist was los“), die niederschmetternde Enttäuschung, als selbst bei den Eidgenossen die „Ausschaffung“ droht („Da ihre Anwesenheit in der Schweiz keinem Bedürfnis entspricht“), der glitzernde Varieté-Hype in Amerika und die ironische Nummer in der „Holzklasse“ („Der zweitälteste Frauenberuf der Welt“), vor allem aber die herzzerreißenden Innenansichten wie „Ich hab Dich zu vergessen vergessen“ oder „Alte Tränen“ – wo Basis geschaffen war für dramatische Stimmungswechsel und mal ergreifende, mal mitreißende Gefühle – blieb der Abend doch auf einem Pegel. Dabei ist Ries‘ Stimme durchaus charakterstark, in Sprüngen zwar nicht ausreichend treffsicher und in der Höhe nicht durchzugsstark genug, aber hier kommt ihr die nicht auf Virtuosität, sondern auf die textliche Tiefe konzentrierte Kreisler-Musik entgegen.
Grandios der zwischen verschmitzten Klang-Ausflügen und einer facettenreichen, hochemotionalen Situationsinterpretation changierende Pianist Christian Keul: Der Mann an den Tasten, der – ein Charakteristikum der Ries-Inszenierung – auch einige kleinere Rollen übernahm, war zwischen großem klanglichem Gestus und tiefbetrübter Melancholie immer ganz an der Seele, die Kreislers Musik offeriert.
Das Publikum quittierte die Musik, vielleicht auch die thematische Außergewöhnlichkeit mit ernst gemeintem Applaus. Denn mag er auch Schwächen gehabt haben: In seiner Botschaft und in seiner Aktualität war es ein starker Abend.
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