Hockenheim. Ich darf alles sagen, was ich denke. Außer so etwas wie ,Du bis hässlich!‘“, interpretiert Levi aus der Klasse 4a sein Recht auf freie Meinungsäußerung. Es ist weder das erste, noch das letzte Mal an diesem Vormittag, dass die Kinder an der Baumann-Hartmann-Schule die abstrakten Begriffe des Grundgesetzes auf das Mindeste herunterbrechen – und damit überraschend treffsicher die eigenen Ansprüche definieren.
Hockenheimer Viertklässler erleben eine etwas andere Deutschstunde
In der vierten Schulstunde steht ab 11.15 Uhr in der 4a Deutschunterricht bei Klassenlehrerin Christine Heger im Stundenplan. Doch an diesem Tag ist im kleinen Klassenzimmer alles anders – dank einer Vereinbarung mit dem Schulrektor Marcus Roth wartet nicht die Deutschlehrerin, sondern ich, ein etwas verunsicherter Reporter in den Zwanzigern, auf die Kinder. Eine ungewohnte Situation für die Klassengemeinschaft, die gerade vom Sportunterricht eintrifft. Und auch für mich, denn ich sehe mich vor der Herausforderung, mit den Schülern zwischen acht und zehn Jahren über Inhalte zu plaudern, die ich selbst erst im Studium lernte. Nämlich: „Was wisst ihr eigentlich über eure eigenen Rechte?“ Zumindest komme ich nicht mit leeren Händen – neben einer Reihe Ausdrucke und Süßigkeiten habe ich Fotografin Dorothea Lenhardt im Gepäck, die schnell das Interesse der Kinder weckt.
Und so stehen wir in diesem Klassenzimmer. Die Kinder sitzen vor uns, auf Stühlen, nicht einmal halb so groß wie der hinter dem Lehrerpult. Sie sitzen hinter Tischen mit kurzen Tischbeinen, auf denen feinsäuberlich das Federmäppchen ausgebreitet liegt. Mit der Vesperdose in der Hand und dem Brot zwischen den Zähnen. Die kleinen Kulleraugen sind neugierig auf uns geheftet, als dann, kurz vor Beginn der Stunde, Christine Heger den Raum betritt. „Was sagen wir, wenn mehrere Erwachsenen im Raum sind?“ Die Kinder antworten der Klassenlehrerin im Chor: „Hallo alle zusammen!“
Während die Lehrerin im hinteren Teil des Zimmers Platz nimmt, stelle ich das zu besprechende Thema vor. „Was sind denn überhaupt Kinderrechte“, frage ich in die Runde. Blitzschnell recken sich zwei Dutzend Finger gen Himmel. Etwas erleichtert, dass die Schüler meine vorübergehende Klassenleitung akzeptierten, nehme ich Max an die Reihe. „Zum Beispiel haben Kinder das Recht zu spielen!“ Mia fügt hinzu: „Und wenn die Eltern getrennt sind, darf niemand verbieten, dass das Kind auch den Papa sieht.“
Hockenheimer Schüler sinnieren: Was sind denn Kinderrechte?
Ich weiß, dass die Kinder das Thema ungefähr ein halbes Jahr vorher schon einmal behandelten, es überrascht mich aber doch, welch spezifischen Beispiele in ihren Köpfen hängen geblieben sind. „Das sind sehr gute Beispiele, aber was sind denn Kinderrechte allgemein?“ Alexander antwortet mir: „Na ja, Rechte der Kinder, oder?“ Hätte ich wetten müssen, welche schlagfertige Antwort auf meine zugegebener Maßen schwache Frage folgt, wäre es wohl diese gewesen. „Und wo stehen die“, frage ich in dem sicheren Glauben, keine Antwort zu erhalten. „In den Kinderrechtskonventionen.“ Mias Antwort kommt wie aus der Pistole. Schon jetzt bin ich beeindruckt von den schnellen und aufgeweckten Kindern, die – von ihren Miniaturstühlen aus – zu mir hochschauen. Etwas verblüfft hake ich nach: „Ja, richtig, aber was ist das?“ Mit einem verschmitzten Grinsen antwortet Matthias: „Na so ein Buch . . . sowas wie die Bibel.“ Zwar scheint das abstrakte System der Gesetze für die Kinder schwer vorstellbar zu sein, den eigentlichen Kern, um den es geht – nämlich Ge- und Verbote – ist für die meisten in den Reihen offensichtlich recht klar. Ich erkläre, dass Matthias grundsätzlich recht habe, so sei die Bibel auch eine Art Rechtssystem für die Gläubigen, bevor ich dann zum Hauptteil meiner ersten eigenen Schulstunde übergehe.
Doch nun noch einmal von Anfang. „Erste Voraussetzung dafür, dass Kinder zu ihrem Recht kommen, ist, dass sie es kennen und verstehen“, findet der Landtagsvizepräsident Daniel Born, der das Thema Kinderrechte in die breite Öffentlichkeit in der Region trägt. Doch wer kann sagen, ob Kinder ihre Rechte kennen und verstehen? Wahrscheinlich am ehesten die Kinder selbst.
Insgesamt sprechen wir über acht Rechte. Ich pinne sie, einzeln auf ein Blatt gedruckt, mithilfe bunter Magneten an die Tafel. Zu jedem der Rechte soll dann je ein Kind ein Beispiel nennen.
Wir beginnen mit dem Recht auf Gesundheit, das Emilia versucht zu definieren: „Mich darf niemand zwingen, in den Regen zu gehen.“ Nach kurzer Rücksprache mit den Klassenkameraden einigen wir uns auf: „Mich darf niemand zwingen, schlecht angezogen in den Regen zu gehen. Sonst werde ich krank.“
Die Kinder aus Hockenheim sammeln Diskriminierungsmerkmale
Unter dem Schutzrecht auf Gleichheit, abgeleitet aus dem zweiten Artikel des Grundgesetzes, subsumieren die Kinder eine zweistellige Anzahl von Diskriminierungsmerkmalen, angefangen mit der Hautfarbe bis hin zu geistigen Benachteiligungen. Auf mich wirkt es, als würde die gesellschaftliche Debatte über Rassismus auch beim Nachwuchs ankommen – und der hat eine Meinung: „Niemand darf wegen irgendetwas, wofür er nichts kann, ausgeschlossen werden“, betont Felix.
Eine rege Diskussion entsteht – zu meiner Überraschung – beim Recht auf Privatsphäre und dem Schutzbereich gegenüber den Eltern. Dürfen Eltern ins Kinderzimmer? Natürlich. Aber mit aufs Klo? Keine Ahnung. Wir einigen uns darauf, dass Eltern ihrer Fürsorgepflicht nachkommen müssen und diese eben auch mal die Privatsphäre der Kinder beschneidet. Eine Notwendigkeit, die auch die Schüler selbst so wahrnehmen.
Marcel nimmt sich dem Thema an, das auch mich vor der Schulstunde am längsten beschäftigte – das Schutzrecht vor Gewalt. Marcel versteht den Kern des Schutzes, er sagt: „Wenn Erwachsene uns etwas tun, müssen andere Erwachsene uns helfen.“ Er begreift den Schutz vor Gewalt als Anspruch auf Hilfeleistung von außen. Die Transferleistung des Grundschülers beeindruckt mich.
Am Beispiel des Rechts auf Spiel und Freizeit erarbeiten wir auch die Grenzen und Korrelation verschiedener Rechte. Besonders das Recht auf Bildung und die daraus resultierende Schulpflicht sehen die Kinder zunächst im Widerspruch zu ihrem Recht auf Spiel und Freizeit. Mattis, ein cleverer Junge, fasst sich ein Herz: „In der Schule arbeiten, zu Hause spielen!“ Gut gelöst, doch nicht die einzige Abgrenzungsfrage, die wir heiß diskutieren. „Wenn ich ein Recht auf den Zugang zu Medien habe, wieso darf meine Mama mir dann das Zocken verbieten?“ Eine interessante Frage von Alexander, die mich vor eine Herausforderung stellt. Wie erkläre ich den Unterschied zwischen Medien und dem Medium – ich denke, seine Mutter hätte weniger dagegen, wenn er an seinem Computer die Nachrichten liest. Doch die Stunde macht die Neige, also verweise ich darauf, dass Alexanders Erziehungsberechtigte sicher nichts dagegen hätte, wenn er die Zeitung lesen wollte – ein bisschen Eigenwerbung an die nächste Lesergeneration!
Zuletzt sprechen wir darüber, dass auch Kinder ein freies Äußerungsrecht haben. Und was Levi dazu sagt, zeigt eine Differenzierungsgabe, die selbst vielen Erwachsenen fehlt. Denn ja, auch Kinder dürfen alles sagen, was sie möchten. Und ja, auch bei Kindern hört dieses Recht an der Stelle auf, an der die Meinung andere verletzt. Der Satz, mit dem ich eingestiegen bin – „Ich darf alles sagen, was ich denke. Außer so etwas wie ,Du bist hässlich!‘“, trifft den Nagel auf den Kopf.
Kein Wunder, dass Lehrerin Heger in der Feedbackrunde sagt: „Ich bin stolz auf euch, weil ihr so viel wusstet.“ Ich selbst bin aus dem gleichen Grund zutiefst beeindruckt, von der Arbeit an dieser Schule.
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