Gesundheitswesen

Reilinger Arzt bemängelt Umsetzung der Elektronischen Patientenakte

Bis Ende 2024 soll die elektronische Patientenakte für alle gesetzlich Versicherten verbindlich sein. Der  Mediziner Dr. Michael Eckstein vom Hockenheimer Ärztenetzwerk sieht das System hierfür jedoch unausgereift.

Von 
Henrik Feth
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Ein Blick in die Oberfläche der elektronische Patientenakte zeigt die umfassenden Informationen, die dort eingetragen werden müssen. © dpa

Reilingen/Hockenheim. Ein kurzer Blick ins Handy und alle eigenen medizinischen Daten auf einen Blick haben – Befunde, Bescheinigungen, Arztbriefe und vieles mehr – ein Gedanke, der im deutschen Gesundheitswesen mit etlichen Bürokratie-Hürden, Papierkriegen bei Ärzten und fehlender Übersicht bisher eher Utopie denn Realität war. Doch dies soll sich nun ändern: Seit dem 1. Januar 2021 besteht für alle gesetzlich Versicherten die Möglichkeit, Zugang zu einer elektronischen Patientenakte (ePA) zu erhalten. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat außerdem in diesem März eine umfassende Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege vorgelegt. Dort wird die Verwendung der ePA bis Jahresende 2024 als verbindlich für alle gesetzlich Versicherten deklariert – dieser Pflicht können Patienten nur durch aktives Ablehnen, das sogenannte „Opt-Out-Verfahren“, entgehen.

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Doch das Thema wirft Fragen auf: Was ändert sich für den Patienten? Wie läuft die Anmeldung zur ePA? Was sollen ältere Bürger ohne Smartphone tun? Zudem werden Faktoren wie Datenschutz, unfreiwillige Transparenz oder die arbeitsintensive Umstellung von Papier zu Computer von Kritikern als Gegenargument aufgeführt. Wir haben Dr. Michael Eckstein, ehemaliger Vorsitzender des Ärztenetzwerkes Hockenheim mit Praxissitz in Reilingen, nach seiner Einschätzung zur ePA sowie deren Umsetzung gefragt. Er weist auf einige kritische Punkte des Vorhabens hin.

Praxis Eckstein in Reilingen ist seit 15 Jahren weitestgehend digital

„Wir digitalisieren unsere Akten bereits seit 15 Jahren. Trotzdem ist mit der ePA ein erheblicher Mehraufwand verbunden“, sagt der Mediziner. Täglich sei eine seiner Medizinischen Fachangestellten (MFA) damit beschäftigt, eingehende Dokumente einzuscannen. Für die Praxis ist dies zeit-, personal- und kostenintensiv, wie Eckstein beschreibt: „Wenn ein Patient beispielsweise im Krankenhaus war, bekommen wir zunächst einen vorläufigen Arztbrief per Fax, dieser kommt einige Tage später nochmals mit der Post. Und der endgültige Brief, der sich inhaltlich nicht unterscheidet, aber vom Chefarzt unterschrieben ist, kommt dann etwas später noch zusätzlich. Alle drei Dokumente – und bei einem Krankenhausbrief haben diese oftmals mehrere Seiten – müssen eingescannt und in die ePA übertragen werden“. In dieser Hinsicht würde die Umstellung auf die ePA, bei der die oben angesprochenen Dokumente in digitaler Form zugeschickt würden, einen erheblichen Zeitvorteil für die Ärzte und MFAs bringen.

„Wir – und ich spreche auch im Namen meiner Kollegen – sind absolut für eine Digitalisierung in unserem Bereich, unsere Praxisabläufe sind sicher zu 95 Prozent digitalisiert. Dass die Befunde auch dort verfügbar sind, wo sie benötigt werden und ein Datenaustausch erfolgt, um unnötige Behandlungen zu vermeiden, ist ein lohnendes Ziel. Doch das aktuelle Verfahren ist nicht ausgereift und stellt für die Ärzte eher eine Belastung als einen Benefit dar“, führt Eckstein weiter aus.

Dr. Michael Eckstein hat seine Praxis bereits seit 15 Jahren digital organisiert. Trotz-dem verursacht ihm die elektronische Patientenakte hohen Mehraufwand. © Feth

Die Grundidee sei definitiv die richtige, doch bei der Art und Weise der Umsetzung werde die Basis – also die Ärzte und Patienten – von der Bundespolitik ausgeschlossen, beklagt der Internist. Ein typischer Fall von Differenzen zwischen Theorie und Praxis.

Trotz der grundlegenden Befürwortung der ePA stellt Eckstein einige Kritikpunkte dar. Allein eine Erstbefüllung des Dokuments koste den Arzt je nach Patienten und Datenmenge in der aktuellen Verfahrensweise deutlich mehr Zeit. Hinzu kommen laut Eckstein noch erhebliche Ladezeiten, die für die Übertragung der Dokumente mit eingerechnet werden müssen. „Eine ePA-Erstbefüllung wird aktuell mit 10 Euro abgerechnet, was absolut nicht mit dem Zeitaufwand einhergeht“, beschreibt der Mediziner Mängel in der Praktikabilität des Verfahrens.

Die Praxisferne zeige sich auch im ePA-Computersystem: Aktuell werden die Dokumente in den Formaten PDF und Doc eingespeist. Dies bedeutet für den behandelnden Arzt, dass er – statt eine Papierakte zu durchblättern – jedes eventuell relevante Dokument zunächst öffnen und prüfen muss. Und die Dokumentenanzahl summiere sich mit der Zeit, was eine teilweise sehr lange Liste bedeute, ergänzt Eckstein. Also bleibe zum aktuellen Stand auch ein Vorteil bezüglich Übersicht und schnellerer Informationsfindung aus.

Mehr Möglichkeiten und Transparenz für Patienten durch elektronische Patientenakte

Als großen Pluspunkt der ePA sieht er indes die Transparenz, die für den Patienten geschaffen werden soll. Dieser kann per App auf seine Akte zugreifen und sogar Bearbeitungen. Heißt: Dem Anwender steht es offen, Diagnosen in seiner ePA zu sperren oder nur für ausgewählte Berechtigte freizuschalten.

Was für den Patienten ein gutes Recht und eine Erleichterung darstellt, bringt auf der anderen Seite wieder Probleme. „Der Arzt kann sich so nie sicher sein, ob eine Akte komplett ist. Für eine einwandfreie Diagnostik ist eine detaillierte Krankheitsgeschichte essenziell“, warnt Eckstein. Hinzu komme, dass die Daten im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise alle zentral in einem System gespeichert werden sollen. Für Eckstein stellt damit sich die Sicherheitsfrage: „Es gibt keine sensibleren Daten als in einer Krankenakte. Diese komplett in einen Pool zu werfen, ist fahrlässig und ein Schlaraffenland für Cyber-Kriminalität.“ Hier müsse ein anderer Weg gefunden werden, um allen beteiligten Parteien gerecht zu werden.

Die wichtigsten Fakten zur elektronischen Patientenakte

  • Was ändert sich für den Patienten? Sobald alles wie geplant umgesetzt ist, gibt es keine physischen Bescheinigungen wie Rezepte oder Befunde mehr. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen werden bereits jetzt nicht mehr in gedruckter Form ausgegeben
  • Welche Vorteile entstehen für den Patienten? Die ePA soll dem Patienten mehr Transparenz bezüglich seiner Gesundheitsgeschichte bringen. Die eigene Patientenakte kann jederzeit mit einer App eingesehen werden. Zudem reicht beispielsweise dank des E-Rezepts der Gang zur Apotheke, ohne vorab eine gedruckte Version beim Arzt zu holen. Außerdem erweitert sich die Hoheit über die eigenen medizinischen Daten, da man selbst entscheiden kann, wer auf was Zugriff hat
  • Welche Vorteile hat die ePA für die Ärzte? In der Theorie soll die ePA die komplette Behandlung erleichtern. Hausarzt und Facharzt können, sofern vom Patienten authorisiert, auf die gleichen Daten zugreifen. Dadurch soll eine Erleichterung der Zusammenarbeit im Sinne des Patienten entstehen. Zudem soll ein effektiveres Patientenmanagement ermöglicht werden
  • Wie bekommt man aktuell eine ePA? Zunächst muss die eigene Krankenkasse kontaktiert werden. Diese sendet dann eine PIN per Post, mit der man sich gemeinsam mit der gängigen (und NFC-fähigen) Gesundheitskarte für die ePA registrieren kann. Dann muss die Smartphone-App der jeweiligen Krankenkasse heruntergeladen werden und der Zugriff auf die ePA kann nach erfolgreichem Login mit den Daten der Krankenkasse erfolgen
  • Kann die ePA auch ohne Smartphone genutzt werden? Obwohl die ePA auf ein Smartphone oder Tablet zugeschnitten ist, kann sie auch von Patienten ohne diese Hilfsmittel – wenn auch eingeschränkt – genutzt werden. Dazu ist die oben genannte Anmeldung notwendig. Die ePA kann dann beim jeweiligen Arzt, nach Einlesen der Gesundheitskarte und PIN-Eingabe eingesehen und verwaltet werden. 

Auch das vom Ministerium angesetzte „Opt-Out-Verfahren“ sieht der Reilinger Arzt kritisch: „Es ist der falsche Weg, einen aktiven Widerspruch von den Patienten zu verlangen, damit diese nicht in die ePA aufgenommen werden. Vor allem bei älteren Patienten, die nicht über die technische Ausstattung und das Know-how verfügen, ist diese Vorgehensweise problematisch. Das System ist fragwürdig, gerade bei diesen sensiblen Gesundheitsdaten muss eine aktive Zustimmung zur Freigabe erfolgen.“

Trotz der Kritikpunkte stellt Eckstein nochmals klar, dass sich die Ärzte nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung des Gesundheitswesens stellen. „Das aktuelle System ist weder praktikabel noch gewährleistet es eine Handlungssicherheit. Und wenn es in dieser Form bis 2024 mithilfe von Strafen und Androhungen wie Honorarabzug beim Nichtbefüllen der ePA durchgeboxt werden soll, zeigt das nur, dass es auf lange Sicht nicht funktionieren wird“.

Entweder muss die Einführung der ePA einen Benefit für die Beteiligten, insbesondere für die Praxen, bringen oder das System läuft von alleine an. Da beides nicht der Fall ist, ist für Eckstein klar: Die aktuelle ePA wird nicht den von der Bundespolitik gewünschten Effekt bringen.

Erst ein Prozent der gesetzlich Versicherten nutzt die elektronische Patientenakte

Auch bei den Patienten steht die ePA noch nicht hoch im Kurs: Erst ein Prozent der gesetzlich Versicherten greife auf das neue Angebot zurück. Eckstein sieht hier ein weiteres Indiz, dass es einschneidender Änderungen bedarf: „Wenn die angesprochenen Hauptkritikpunkte gemeinsam mit den anwendenden Ärzten und Vertretern der Patienten behoben werden und die Verfahrensweise vereinfacht wird, dann ist eine zielführende Umsetzung möglich.“

Abschließend weist der ehemalige Vorsitzende des Hockenheimer Ärztenetzes, das knapp 60 Mediziner der Horan-Region umfasst, darauf hin, dass vor allem die älteren Menschen nicht auf der Strecke bleiben dürfen. „Denn diese sind am meisten auf medizinische Hilfe angewiesen und können zum Großteil nichts mit Smartphones und Computern anfangen. Auch hier muss eine adäquate Lösung her.“

Das Digitalisierungsvorhaben von Gesundheitsminister Lauterbach hat also noch einen steinigen Weg vor sich, bevor die ePA Ende 2024 für alle gesetzlichen Versicherten verbindlich sein soll. Weitere Diskussionspunkte bezüglich der ePA wie den Datenschutz, das E-Rezept oder den Mehrwert für den Patienten werden wir in den kommenden Wochen in weiteren Beiträgen genauer beleuchten.

Redaktion Verantwortlicher Redakteur für die Gemeinde Ketsch

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