Hockenheim. Ein Lichtkegel zeigt auf das Mikrofon am Bühnenrand. Strich für Strich entsteht auf der Großleinwand eine Tuschezeichnung von Marlene Dietrich, wie sie in aufreizender Pose mit angewinkelten Beinen, Strumpfhose und Zylinder ihren Kopf in den Nacken wirft. Julian Walleck zupft einen sanften Walking-Bass auf den Kontrabasssaiten, dann wird es rauchig: Sängerin Lotta Stein wiegt sich in der sanft artikulierten Klavierbegleitung von Jakob Reinhardt und singt Dietrichs Filmschlager „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“.
So beginnt die Show „Ein rätselhafter Schimmer“ von Künstler Robert Nippoldt und drei Musikern mit dem Trionamen „Größenwahn“ in der Hockenheimer Stadthalle. Das Konzept: eine Reise durch die Goldenen Zwanziger, mit allen Licht- und Schattenseiten. Inszeniert wird der Rundumblick, indem Nippoldt live zeichnet oder mit vorgefertigten Schablonen Lichttheater spielt. Seine Kunst wird dann durch eine Kamera auf eine Leinwand projiziert. Passend zu den Bildern erklingt das Spiel von „Größenwahn“ – es ist ein symbiotischer Zusammenschluss aus Kunst, Theater und Musik, der funktioniert.
Der Jazz gewinnt in den Zwanzigern in den Berliner Nachtklubs an Popularität
Die Goldenen Zwanziger sind turbulent. Das ist gleich zu Beginn der Show ein übergreifendes Thema. Es ist eine Zeit des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umdenkens, die den Deutschen nach den vorausgegangenen Schrecken des Ersten Weltkrieges zum ersten Mal ein lang ersehntes Gefühl von Freiheit gewährt. Alte Regelkorsette werden nach und nach eingestampft. So wird das Frauenwahlrecht bereits 1919 eingeführt und der als „trivial“ verschriene Jazz gewinnt in Berliner Nachtklubs an Popularität.
Damit verbunden ist auch die sexuelle Befreiung der Frau: Erotik und das Kokettieren in Tänzen wie dem Charleston oder Black-Bottom sind Erscheinungen, die den Zeitraum von Kriegsende bis 1929 entscheidend prägen. Vor dem inneren Auge entstehen so schnell filmreife Szenen à la „Babylon Berlin“. Bilder, die der deutsche Illustrator Robert Nippoldt schon seit Langem in beeindruckende Kunstwerke verwandelt.
Nippoldt inszeniert seine Kunst in „Ein rätselhafter Schimmer“ in einem dramaturgisch perfekt ineinandergreifenden Ablauf, der es erlaubt, sich in seinen Erzählungen zu verlieren. Dafür brauchen er und das Trio „Größenwahn“ nicht viel – nur einen Schreibtisch mit Kamera, eine Leinwand, Flügel, Bass und Mikrofon. Einen Überblick über alle Reichskanzler der Weimarer Republik, Straßenkämpfe, Inflation, die erste Rundfunksendung aus dem Berliner Vox-Haus und weitere Stationen handelt Nippoldt schnell ab, indem er Karten mit den jeweiligen Informationen im Takt der Musik unter die Kamera auf der Bühne legt.
Die Seeräuber-Jenny aus Brechts "Dreigroschenoper" ist in Hockenheim dabei
In einem Schattentheater spielt der Künstler dann die Geschichte der Seeräuber-Jenny aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ nach. Dazu erklingt die gleichnamige Ballade von Kurt Weill. Hier experimentiert er mit verschiedenfarbigen Hintergründen und Lichteffekten – zusammen mit dem Gesang von Lotta Stein ein beeindruckendes Spiel.
Ein weiterer Kniff der Show sind die „Live-Animationen“, bei denen Robert Nippoldt seine Kunst auf ausgeschnittener Pappe so geschickt bewegt, dass das Bild auf der Leinwand hinter ihm an einen Trickfilm erinnert. Auf diese Weise inszeniert der Künstler einen „Rundflug“ durch die Geschichte der Luftfahrt oder eine komödiantische Korrespondentenschaltung im Berliner Vox-Haus. Die Szenerien wechseln in der darauffolgenden Showeinlage in atemberaubenden Tempo: In weniger als fünf Minuten betreten die Zuschauer ein Schachturnier im Berliner Rathaus, den Sportpalast, eine Pferderennbahn oder einen Boxring. Das sonst gebannt lauschende Publikum kann sich hier ab und zu ein Lachen nicht verkneifen.
Immer wieder wechseln die Musiker die Instrumente, teils wurde dies spontan vor der Show entschieden, wie Robert Nippoldt im Gespräch mit unserer Zeitung verrät. So spielt Lotta Stein in einer Nummer Klavier und Jakob Reinhardt widmet sich situativ dem Gesang. Eine besondere Überraschung sind die Showeinlagen, bei denen Nippoldt selbst singt, stets am Ende der beiden Showteile. Zu viert intonieren die Künstler zum Abschluss „Ein Freund, ein guter Freund“ von den Comedian Harmonists.
Der Name „Ein rätselhafter Schimmer“ ist treffend gewählt. Denn tatsächlich ist in der Show spürbar, wie unwirklich die Zeit der Goldenen Zwanziger ist. Die erste deutsche Demokratie war ein Lichtblick, der schließlich im braunen Sumpf der nationalsozialistischen Ideologie versinken sollte. Die Show versucht dabei zu lehren, aber nie zu belehren. Wer genau hinsieht, kann Licht und Schatten der Zwanziger unterscheiden: Alles was glänzt, ist angesichts der nahenden Katastrophe ein „rätselhafter Schimmer“.
Das wird auch deutlich, als Pianist Jakob Reinhardt ein Gedicht von Kurt Schwitters, dem König des Hannover’schen „Dadaismus“, vorträgt. Die Worte sind nicht klar definiert, nur einzelne unzusammenhängende Silben sind erkennbar – wie die Zeit, ist auch der Text ungeordnet, stürmisch und versinkt vollends im Chaos – eine bewusste künstlerische Entscheidung von Nippoldt und „Größenwahn“.
Es ist dabei beeindruckend, wie Robert Nippoldts Bilder im Zusammenspiel mit den Musikern eine beinahe hypnotische Wirkung erzeugen. Beim Blick in die Zeit von politischen Unruhen und Glamour, gleichzeitiger gesellschaftlicher Selbstfindung und Radikalisierung entsteht eine fesselnde Atmosphäre, die auch nach der Show zum Nachdenken anregt. Fast 100 Jahre ist es her, trotzdem ist nach einem Blick ins Gästebuch klar: Die Wilden Zwanziger begeistern in Robert Nippoldts Darstellung noch heute.
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