Im Interview

Situation in der Pflege: Hockenheims Mobile Pflegedienste und St. Elisabeth-Heimleitung berichten

Corona hat die Bedeutung der Arbeit der Pflegenden stärker ins Bewusstsein gebracht. Doch inzwischen stehen andere Krisen im Vordergrund und die Situation in Heimen und ambulanten Diensten bleibt angespannt.

Von 
Matthias Mühleisen
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Immer weniger Kräfte für immer mehr pflegebedürftige Menschen: Das ist die Situation, auf die Einrichtungen und ambulante Dienste sich einstellen müssen. © DPA

Hockenheim. Nicht nur zu Corona-Zeiten wurde berichtet, dass Kliniken Intensivstationen schließen, weil sie kein Personal haben. Mangel an Mitarbeitenden herrscht in der ambulanten Pflege und in den Heimen in Hockenheim und Umgebung nicht weniger. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied: Sie können ihre Patienten nicht unversorgt lassen, lediglich neue Patienten ablehnen – was eine Katastrophe für betroffene Angehörigen bedeutet, wie Esther Kraus und Micha Böbel von der Kirchlichen Sozialstation sowie die Heimleiter Markus Hübl (St. Elisabeth), Manuela Offenloch und Marina Offenloch (Pflegezentrum Offenloch) berichten. In einer Gesprächsrunde schildern sie ihr Situation, konkrete Probleme und mögliche Lösungen.

Ist die Personalsituation tatsächlich so dramatisch in Ihren Einrichtungen?

Manuela Offenloch: Ja, das Personal fehlt, ich muss mir im ambulanten Dienst überlegen, ob ich noch neue Patienten annehmen kann.

Marina Offenloch: Und gleichzeitig haben wir so viele Anfragen, dass wir hier ein zweites Haus hinstellen könnten. Die Nachfrage nach Pflegeplätzen ist im Moment extrem hoch. Ich frage mich, wo die Leute landen, für die wir keinen Platz haben.

Micha Böbel: Wir können momentan ebenfalls kaum neue Patienten annehmen, haben auch zwei Touren schließen müssen, weil wir nicht genug Mitarbeitende haben.

Markus Hübl: Wir haben aufgrund der Situation begonnen, frei werdende Betten nicht wieder zu belegen – das habe ich noch nie getan. Um die Mitarbeiter, die da sind, zu schützen.

Was bedeutet das, wenn Sie Touren schließen?

Böbel: Wir verteilen um: Die anderen Touren werden aufgefüllt, manchmal fallen Patienten weg, weil sie ins Krankenhaus müssen. Vor allem am Wochenende entlastet das die Mitarbeitenden, weil sie nicht immer einspringen müssen. Über das ganze Jahr gesehen, können wir so die Teams entlasten – was auch notwendig ist – es geht nichts mehr.

Manuela Offenloch: Wir müssen aufpassen, dass wir die Mitarbeitenden, die wir haben, nicht so an Belastungsgrenzen bringen, dass sie krank werden oder aus dem Job rausgehen. In der Pflege ist es nicht ungewöhnlich, dass sich die Menschen ganz andere Jobs suchen.

Markus Hübl: Wir haben jetzt gerade zwei Mitarbeitende an Arztpraxen verloren, die damit locken, dass sie keine Wochenenddienste verlangen. Wir bilden aus, aber wir wissen kaum, wie wir die Kollegen, die in Rente gehen, ersetzen sollen. Es kommen nicht so viele Interessenten nach, wie in Ruhestand gehen.

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Gibt es andere Möglichkeiten, an Mitarbeiter zu kommen?

Markus Hübl: Der Markt ist einfach nur leer, das kann man für unsere Region sagen, aber auch für andere, in denen ich mit Kollegen in Kontakt bin.

Micha Böbel: Als Pflegefachkraft hat man eben verschiedene Möglichkeiten, zum Beispiel beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen oder in der Heimaufsicht. Das macht den Beruf attraktiver, aber uns fehlen dann die Fachkräfte massiv.

Wie sieht es denn mit Nachwuchs aus in Ihren Einrichtungen?

Manuela Offenloch: Ich biete gerne Nachqualifizierung an: Viele unserer Fachkräfte sind über das Wegebausystem nachqualifiziert worden. Das ist ein spezielles Programm, das über die Agentur für Arbeit finanziert wird. Pflegehilfskräfte bilden sich weiter, erhalten währenddessen ein Vollzeitgehalt. Wir haben recht häufig sehr fitte Pflegehilfskräfte, im stationären Bereich Wohnbereichshelferinnen und -helfer. Andererseits fehlen uns diese Pflegehilfskräfte genauso – es geht eben nicht nur um den Fachkraftmangel.

Esther Kraus: Sondern um den Mangel allgemein: Es gibt zu wenige Menschen, die da sind, um Arbeit zu übernehmen. Das geht auch anderen Branchen so, etwas der Gastronomie. Der demografische Wandel sorgt dafür, dass nicht mehr genug Menschen nachkommen – die sind schlicht nicht da. Deshalb müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit es weitergehen kann.

Markus Hübl: Wobei erste Untersuchungen ergeben haben, dass bei Rekrutierungen aus dem Ausland circa 90 Prozent innerhalb der ersten zwölf Monate wieder nach Hause gehen, weil die Familie dort geblieben ist – was verständlich ist. Das ist nicht die Lösung unseres Problems.

Micha Böbel: Und es muss auch sprachlich funktionieren – Pflege ist etwas, das über Kommunikation läuft.

Wenn es aber zu wenige Menschen hier gibt und Kräfte aus dem Ausland nicht bleiben, wird es ja richtig schwierig.

Manuela Offenloch: Ich habe da anderen Erfahrungen gemacht. Ich habe eine kleine Deutsch-Schule für Pflegefachkräfte im Kosovo eingerichtet mit einem Lehrer vom Goethe-Institut. Die Kräfte haben einen B2-Schein, den man als Sprachkenntnisnachweis in Deutschland für eine Zulassung auf dem Arbeitsmarkt braucht, gemacht. Die sind alle in Deutschland geblieben.

Hockenheimer „Pflegegipfel“: In der Gesprächsrunde zum Stand der Pflege in der Stadt und der Umgebung tauschen sich Esther Kraus (Kirchliche Sozialstation, v. l.), Redakteur Matthias Mühleisen, Markus Hübl (St. Elisabeth), Manuela Offenloch und Marina Offenloch (Pflegezentrum Offenloch) und Micha Böbel (Sozialstation) aus. © Lenhardt

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, um die Situation zu verbessern?

Markus Hübl: Wir haben das Problem, dass die Pflege seit Corona schlechtgeredet wird, ohne dass das beabsichtigt wird. „Die Armen sind überlastet, die Armen verdienen so wenig“ – all das führt ja nicht dazu, dass sich junge Menschen, die sich nach einem Beruf umschauen, auf den Gedanken kommen, in die Pflege zu gehen. Da hilft auch kein Corona-Bonus. Man muss die Arbeit attraktiv machen.

Esther Kraus: Ich fand die Idee von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Sozialen Pflichtjahr gut, ich glaube, das würde manches entlasten. Wo soll die Entlastung sonst herkommen: Es gibt immer mehr zu Pflegende und weniger, die dafür auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Manuela Offenloch: Wir hatten früher aus dem Zivildienstbereich ziemlich viele junge Leute, die sich überlegt haben, eine Ausbildung in der Pflege zu machen. Ich denke, ein halbes soziales Jahr für jeden, ob Mann oder Frau, mit Anrechnung an die Rentenzeit, wäre grundsätzlich gut. Ich glaube, Engagement im sozialen Bereich und Ehrenamt droht bei uns zu versanden. Und wenn man erlebt, wie es in der Pflege zugeht, dass dabei Menschen nicht nur weggesperrt sind, kann dieser andere Blick den Beruf auch attraktiver machen.

Micha Böbel: Ich sehe das auch als wichtige Idee: Selbst wenn die jungen Männer nach dem Zivildienst nicht selbst in die Pflege gegangen sind, hatten sie doch eine andere Sicht auf die Einrichtung. Schon das ändert etwas – etwa, wenn sie später selbst Kinder haben und deren Berufswahl begleiten. So würde das Thema Pflege in jede Familie hineingetragen werden – und nicht erst, wenn ein Mitglied pflegebedürftig ist.

Haben Sie denn den Eindruck, dass Ihre Situation der Politik ausreichend klar ist?

Markus Hübl: Uns fehlt die Lobby, das war schon immer ein Problem, sich zu organisieren und auf die Straße zu gehen. Die Berufsverbände müssten die Politiker deutlicher auf die Lage hinweisen.

Manuela Offenloch: Man muss es so hart ausdrücken: 20 Jahre ist die Pflege politisch nicht nur nicht gesehen worden, sondern wenn Berichte kamen, waren sie negativ. Es wurde nur thematisiert, was in der Pflege nicht läuft. Es gab keine Wertschätzung, das hat der Branche geschadet. Der Fokus hat sich in den vergangenen drei Jahren sehr verändert, was ich sehr positiv finde.

Micha Böbel: Das Problem ist nicht vom Himmel gefallen, mein ganzes Berufsleben habe ich schon gehofft, dass das mehr passiert.

Gibt es kurzfristige Abhilfen, etwa über Personalleasing?

Markus Hübl: Die Leasingfirmen sind auch am Limit und haben fast niemanden mehr, das hat sich auch gewandelt. Am Anfang der Corona-Zeit hat jeder von uns noch relativ problemlos recht kurzfristige Personal über den Weg holen können. Heute heißt es: „Vielleicht in zwei, drei Monaten.“ Die Kräfte werden immer lang gebucht, weil jeder das Problem hat. Trotz höherer Kosten.

Wie sieht es mit der Ausbildung aus: Können Sie alle Plätze besetzen?

Manuela Offenloch: Ich könnte noch mehr Auszubildende aufnehmen. Inzwischen haben wir die Hürde mit dem Realschulabschluss. Für Hauptschulabsolventen hat sich die Ausbildung auf vier Jahre verlängert. Damit wird der Zugang für eine große Gruppe erschwert, die wir vielleicht für unseren Beruf begeistern könnten.

Markus Hübl: Wir haben unsere Plätze dieses Jahr aus eigenen Reihen besetzt: Pflegehelfer, die schon Jahre in dem Beruf waren, haben wir angesprochen. Über die Wegebau-Förderung erhalten sie ihr bisheriges Gehalt während der Ausbildung weiter. Problematisch ist die neue Form der Ausbildung, die einen Wechsel zwischen Pflegehelfer und Altenpflege nicht mehr ermöglicht.

Esther Kraus: Wir brauchen neue Ansätze, eventuell auch neue Wohnformen oder Quartiersarbeit. Es wird nicht mehr Menschen geben, die pflegen können oder immer mehr, die pflegebedürftig sind.

Über den zweiten Teil des Gesprächs berichten wir am Dienstag.

Redaktion Redakteur im Bereich Hockenheim und Umland sowie Speyer

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