Ketsch. Lange und sehr intensiv haben die Ukrainer in Ketsch ihren Auftritt beim Weihnachtsmarkt auf dem Marktplatz vorbereitet. Es wurden ukrainische Gerichte gekocht und Lieder einstudiert. Als die kleine Gruppe dann schließlich auf der Bühne stand, war eines deutlich: Alle möchten von ganzem Herzen „Danke“ an Ketsch sagen, denn die Hilfe, welche die aus dem Kriegsgebiet Geflüchteten erfahren haben, hat viele von ihnen überwältigt.
Unsere Reporterin traf vier Frauen, drei davon leben seit diesem Frühjahr in Ketsch, eine schon viele Jahre und jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte. Da ist Olga Seßler, die seit 25 Jahren in Ketsch wohnt und deren Mutter Nina Obraztsova Odessa im März verließ, nach Ketsch kam, jedoch ihren Mann und ihren Sohn zurücklassen musste.
Auch Evgenia Romanenko kam mit ihren drei Kindern und ihrem Mann aus Kiew Ende März dieses Jahres in die Enderlegemeinde. Otiliya Kovalenko aus Melitopol lebt seit 1. April hier und auch ihr Sohn musste in der Ukraine bleiben, um dort das Land zu verteidigen.
Geflüchtete aus der Ukraine in Ketsch: „Fühlen etwas wie Sicherheit“
„Wir haben die Ukraine eine Woche vor Kriegsbeginn verlassen. Dort hatten wir eine schöne Wohnung und gute Jobs, deshalb war es für uns zunächst unvorstellbar, dass ein Krieg kommen wird und wir alles zurücklassen. Viele unserer Freunde haben nicht verstanden, warum wir gehen, doch mein Mann und ich waren sehr beunruhigt, gerade um die Sicherheit unserer Kinder. Eine Woche nach unserer Ausreise begann dann der schreckliche Krieg und wir befürchten, dieser Krieg wird noch lange dauern“, berichtet Evgenia.
Wie es in Deutschland ist, darüber hatte man nur eine Vorstellung, doch rückblickend sagt die Ukrainerin: „Deutschland und die Menschen hier, alle die uns helfen und geholfen haben und hier in Ketsch ganz speziell Tanja und Martin Winkelkötter, die uns aufnahmen, haben uns eine Perspektive geschenkt und wir fühlen endlich wieder etwas wie Sicherheit. In Worte lässt sich unsere Dankbarkeit kaum fassen, wir fühlen diese unglaubliche Unterstützung tief im Herzen.“
Ihre Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache sind beachtlich, die Kinder mittlerweile im Kindergarten und in der Schule sowie im Sportverein angekommen und sie weiß, die Sprache ist der Schlüssel zu einem Job.
Sie und ihr Mann sind gut ausgebildete Akademiker und sie beschreibt die Mentalität der Ukrainer wie folgt: „In unserem Land, der Ukraine, erreicht man nur etwas, wenn man sich selbst hilft und fleißig ist. Daher fragen wir direkt, wenn wir wo ankommen: Was können wir arbeiten? Und das ist es, was wir möchten. Deutschland ist ein Land der Möglichkeiten, das ist etwas Besonderes und aus meiner Sicht sollte vieles in der Ukraine eines Tages so sein wie in Deutschland.“
Otiliya stimmt ihr zu: „Einfach etwas zu bekommen, das kennen wir nicht aus der Ukraine und hier in Deutschland gibt es eine Sicherheit, die wir vorher so nicht kannten.“
Geflüchtete aus der Ukraine in Ketsch: „Mama, du musst weg“
Otiliyas Heimatort Melitopol liegt in der Nähe des Grenzgebietes zur Krim. „Am 24. Februar zum Ausbruch des Krieges sah ich direkt wie Kolonnen mit Kriegsfahrzeugen und Panzer auf mein Haus zufuhren. Straßen wurden blockiert und die Bombardierung begann. Ich habe mich nachts unter einem Tisch versteckt. Viele in der Ukraine glaubten einfach nicht, dass es zu einem Krieg kommt, selbst nach den ersten Angriffen dachten manche, dass es schnell vorbei ist. Mein Sohn sagte mir: Mama, du musst hier weg. Doch das war nicht einfach und auch teuer. Flughafen und Zufahrtsstraßen waren nicht nutzbar. Schließlich habe ich erfahren, dass Leute in Privatautos Medikamente zu Krankenhäusern transportieren und auf dem Rückweg Menschen, die ausreisen möchten, mitnehmen. So kam ich nach Saporischschja. Aber auf dem Weg wurden wir 30 Mal von russischen Militärs kontrolliert. In Saporischschja konnte ich in einen Zug steigen, der brechend voll war. Ich konnte auch kaum etwas mitnehmen. Ältere Menschen, Kinder, alle total verängstigt, wollten nur weg. Ich wusste, mein früherer Freund Nelu Tiplia lebt in Ketsch und so war dies meine Adresse, zu der ich wollte. Ich bin Irene und Franz aus Ketsch, den früheren Vermietern von Nelu unglaublich dankbar, denn sie waren die ersten, die mich aufnahmen. Mittlerweile lebe ich zusammen mit Kristine Ruangroj, der ich auch so sehr danke. Auch allen anderen, die uns hier eine Zuflucht geben, danke ich von ganzem Herzen – durch so viele Menschen können wir hier unser Leben weiterführen, Deutsch lernen und wieder etwas Hoffnung haben. Auch Nicole Verclas vom Integrationsbüro möchte ich nicht vergessen. Sie leistet so viel Hilfe. Meinen Sohn musste ich zurücklassen, denn er wurde eingezogen. Per Messenger kann ich ab und zu Kontakt halten. Meine Tochter lebt in Polen und eine Verwandte in Moskau. Die Kommunikation ist schwierig. Viele Nachrichtendienste werden vermutlich überwacht, besser man ist vorsichtig. Die Erlebnisse haben so viele Menschen traumatisiert“, so die Ukrainerin.
Auch sie spricht mittlerweile etwas Deutsch und besucht einen Sprachkurs. Olga Seßler, die an einer Schule tätig ist, hilft im Gespräch mit der Übersetzung und ist, seitdem die etwa 100 ukrainischen Geflohenen in Ketsch leben, immer wieder hilfsbereit, wenn es um Übersetzungen geht.
Geflüchtete aus der Ukraine in Ketsch: „Dann kam der erlösende Anruf“
„Als der Krieg begann, wollte ich natürlich sofort meine Eltern und meine Bruder und weitere Verwandte nach Ketsch holen. Mein Bruder, ein sehr gläubiger Mensch und Kriegs-und Waffengegner, der auch aus Überzeugung keinen Wehrdienst leistete, musste sich sofort nach Kriegsbeginn registrieren lassen. Als er an der besagten Stelle ankam, um dies zu tun, wurde ihm gesagt, er müsse seinen Pass hinterlegen und in einen Bus steigen, um nun Militärdienst zu leisten. Erst nach einer Diskussion durfte er wenigstens noch einen kurzen Anruf tätigen, um der Familie Bescheid zu geben. Für meinen Vater war klar, er verlässt Odessa nicht, bis sein Sohn wieder nach Hause kommt. Meine Mutter machte sich mit meiner Schwägerin und meiner Nichte auf den Weg. Die Bahnhöfe waren überfüllt und Drohnen wurden abgeworfen. Die Menschen hatten schreckliche Angst und wurden panisch. In den überfüllten Zügen waren die Zustände katastrophal. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, ob meine Mutter einen Zug bekommen hat und ob sie es bis hierher schafft. Ihr Handy war nicht zu erreichen. Als sie in Mannheim ankam, gab sie jemandem meine Telefonnummer und der erlösenden Anruf an mich erfolgte. Heute lebt sie bei Bernd Elser in Ketsch, dem sie sehr dankt, dass er ihr Wohnraum zur Verfügung stellt. Ich bin froh, dass sie hier ist, doch die Sorge um meinen Vater und Bruder bleibt. Heute die Ukraine zu verlassen, wird immer schwieriger. Aus den von Russland besetzten Gebieten auszureisen, ist unmöglich. Und aus den anderen Gebieten gibt es kaum noch befahrbare Straßen, funktionierende Bahnstrecken und die Flughäfen sind auch zerstört. Es ist sehr schwierig“, führt Olga weiter aus.
Geflüchtete aus der Ukraine in Ketsch: „Chevrona Kalyna“
Die Ukrainer in Ketsch, so wird berichtet, sind nicht alle untereinander vernetzt. Es gibt zwar Whatsapp-Gruppen, doch, so beschreibt es Evgenia, gilt wie in allen Gruppen das Pareto-Prinzip: 20 Prozent sind vernetzt, 80 Prozent nicht. Diejenigen, die am Weihnachtsmarkt gemeinsam mitwirkten, haben jedoch regelmäßig Kontakt und haben sich ganz bewusst für das Lied „Chevrona Kalyna“ – was übersetzt „Roter Schneeball“ heißt – für den Vortrag entschieden.
Der besungene Schneeball ist die Pflanze Schneeball, deren Früchte rot sind. Diese sind ein Nationalsymbol der Ukraine. Dieses Lied sei wie eine Hymne für die Verbindung mit dem Heimatland. Viele ukrainische Musiker und auch die Gruppe Pink Floyd haben dieses Lied seit dem russischen Überfall auf die Ukraine veröffentlicht.
Dass die vier Frauen heute ihre Geschichte erzählen können, bedeute ihnen viel: „Uns allen ist es ein großes Anliegen, von ganzem Herzen zu danken, und wir wünschen allen Menschen Frieden und gesegnete Weihnachten“, bekräftigen die Ukrainerinnen bewegt.
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