Ketsch. Sekundenlang hallt die Stimme von Walter Nußbaum nach, als er direkt beim Betreten von St. Sebastian einen spontanen Akustiktest durchführt. „Für virtuose Stücke verschluckt sich der Hall hier zu sehr – aber für Vokalmusik ist das optimal“, gibt der Künstlerische Leiter des Klangforums Heidelberg ein erstes Urteil ab.
Zusammen mit Heike Hoffmann, der Künstlerischen Leiterin der Schwetzinger SWR Festspiele, und Dr. Oliver Brinkmann von der Kulturkirche Ketsch erkundet Nußbaum an diesem kalten Nachmittag im Dezember die katholische Kirche im Ortskern der Enderlegemeinde. Denn im kommenden Jahr ist der große neoromanische Kirchenbau zum ersten Mal Spielstätte der berühmten Schwetzinger Musikveranstaltung des Südwestrundfunks: Dann wird das Baseler Vokalensemble Voces Suaves den großen Kirchenraum mit seinen Stimmen und Instrumentenklängen füllen.
Doch diese Veranstaltung soll nur der Auftakt sein. Auch für 2024 plant die Festspielleitung, St. Sebastian ins Programm aufzunehmen, dann unter der Federführung des Klangforums Heidelberg. Deshalb begutachtet an diesem Nachmittag Walter Nußbaum den Sakralbau ganz genau. Der Kirchenmusiker und Dirigent gründete 1992 die Schola Heidelberg und das Ensemble Aisthesis, die unter dem Dach des Klangforums zeitgenössische und Alte Musik verbinden.
Schwetzinger SWR Feststpiele in Ketsch: Große Aufführungen möglich
Entsprechend umfangreich sind seine Anforderungen an eine Spielstätte. „Die Kirchenbänke müssten wir verschieben und völlig neu anordnen. Und die einzelnen Klangstationen müssten wir im Mittelschiff positionieren“, erläutert Walter Nußbaum seine Planungen für die Festspiele 2024. Was genau für die übernächste Ausgabe in Ketsch geplant ist, will Heike Hoffmann noch nicht verraten – immerhin werden es die letzten Musiktage unter ihrer Leitung sein. Ein wenig werde das auch von den praktischen Erfahrungen bei der Premiere im kommenden Mai abhängen, sagt sie. „Aber St. Sebastian ist in jedem Fall ein außergewöhnlicher Klang-ort, der aufgrund seiner Architektur und seines eindrucksvollen Ambientes viele Möglichkeiten bietet“, betont Hoffmann.
Voces Suaves in St. Sebastian
- Das Baseler Vokalensemble Voces Suaves tritt im Rahmen der Schwetzinger SWR Festspiele am Sonntag, 21. Mai 2023, um 19.30 Uhr, in der Kirche St. Sebastian in Ketsch, Hockenheimer Straße 3, auf.
- Gespielt werden Vokal- und Instrumentalwerke von Giacomo Carissimi, Giovanni Girolamo Kapsberger, Domenico Mazzocchi, Claudio Monteverdi, Francesco Foggia und Luigi Rossi.
- Karten kosten zwischen 19 und 36 Euro und sind beim SWR erhältlich: Telefonisch Montag bis Freitag von 10 bis 16 Uhr unter 07221/300 100 oder unter www.swrclassicservice.de.
Da ist zum einen die schiere Größe, die man in einer 13 000-Einwohner-Gemeinde nicht erwarten würde. „In Schwetzingen sind die Kirchen tatsächlich kleiner. Dort bieten sich deshalb eher Kammeraufführungen an, während hier in Ketsch auch größere Aufführungen möglich sind. Wobei wir dann wieder aufpassen müssen, dass sich der Klang nicht zu stark vermischt, denn die steinernen Wände reflektieren den Hall viel stärker als beispielsweise holzvertäfelte Räume“, erklärt Heike Hoffmann die Komplexität der Planungen.
Auch die Positionierung der Musiker spielt eine große Rolle. Der Altarbereich ist in St. Sebastian, wie in vielen anderen Kirchen auch, weniger gut geeignet. Denn hier wirken die niedrigere Decke und die seitlich leicht vorgezogenen Wände negativ auf die Akustik. Im Mittelschiff kann hingegen die Höhe des Raumes zum Problem werden: Ist der Klang nicht perfekt ausgerichtet, verschwindet er quasi in den Weiten des Kirchengewölbes.
Ein solches „Akustikloch“ gebe es zum Beispiel mitten im Speyerer Dom, erklärt Heike Hoffmann. „Meine Aufgabe als Künstlerische Leiterin ist es, dem jeweiligen Werk zur größtmöglichen Wirkung zu verhelfen. Die Musik muss sich optimal im Raum entfalten können, und da ist eben jeder Raum anders“, sagt sie. Optimal seien in St. Sebastian die Stufen zum Altar – sie liegen noch im Mittelschiff und bieten gleichzeitig eine Empore für die Musiker.
Doch bei der Begutachtung der 1905 eingeweihten Kirche ergeben sich für die Experten noch ganz andere Herausforderungen. Weil die Konzerte der Schwetzinger Festspiele vom SWR aufgezeichnet werden, gelten besonders strenge Anforderungen: Störende Geräusche müssen nahezu komplett ausgeschlossen werden.
„Selbst Vogelgezwitscher kann da zum Problem werden, auch wenn das bei den Aufführungsorten im Schwetzinger Schloss inzwischen fast schon als spezielles Erkennungsmerkmal dazugehört“, sagt Heike Hoffmann mit einem Augenzwinkern.
Was aber auf keinen Fall passieren dürfe, seien laute Motorengeräusche. Und wie zum Beweis dröhnt plötzlich der raue Sound eines beschleunigenden Motorrads durch die dünnen Glasfenster von St. Sebastian. „Die Kreisstraße könnte wirklich zum Problem werden“, sagt Heike Hoffmann.
Doch um dieses Problem hat sich bereits Dr. Oliver Brinkmann von der Ketscher Kulturkirche gekümmert. „Wir haben mit Bürgermeister Timo Wangler gesprochen, dass wir zur Generalprobe und zum Konzert jeweils kurzzeitig die Kreuzung Schwetzinger und Hockenheimer Straße sperren müssten. Er will uns da bestmöglich unterstützen, wobei auch der Kreis noch mitzureden hat. Aber wir sind an dem Thema dran“, versichert Brinkmann.
Als einer der Initiatoren der Kulturkirche und Mitglied des Pfarrgemeinderats ist Oliver Brinkmann der lokale Ansprechpartner für die Festspiele – und als Kultur- und Musikliebhaber ist er von St. Sebastian begeistert. „Es gibt hier so viele Möglichkeiten: Wir können den gesamten Kirchenraum für Konzerte nutzen, aber auch nur einzelne Bereiche wie zum Beispiel die Seitenschiffe. Durch die neoromanische Struktur einer Basilika entstehen außerdem viele kleine Räume zwischen den Säulen, ähnlich wie in einer Markthalle mit verschiedenen Ständen. Das ergibt viele spannende Ansätze für Kunst- und Musikprojekte“, schwärmt Dr. Oliver Brinkmann.
Schwetzinger SWR Feststpiele in Ketsch: Umverteilung der Bänke
Die Akustik ist dabei an jeder dieser Stellen unterschiedlich. Und auch die „Befüllung“ der Kirche führt zu Veränderungen: Je nachdem, wo wie viele Menschen stehen oder sitzen, verteilt sich der Klang mitunter völlig anders. Entsprechend ist Walter Nußbaum, der Künstlerische Leiter des Klangforums Heidelberg, noch immer mit der Umverteilung der Sitzbänke beschäftigt.
„Vielleicht könnte man auch einen Teil ganz aus der Kirche entfernen. Oder wir drehen die Bänke komplett und schaffen einen Mittelgang“, verteilt er die Möblierung der Kirche vor seinem inneren Auge immer wieder neu, stets mit dem professionellen Blick für die akustischen Auswirkungen.
Festspielleiterin Heike Hoffmann denkt derweil erst einmal an die anstehende Ausgabe im kommenden Frühjahr. „Unsere Tontechniker werden demnächst noch einmal extra vorbeikommen, um die letzten Details für die Aufnahmen ganz exakt auszumessen und zu planen. Bei historischen Orten, die nicht als reine Konzertsäle erbaut worden sind, ist das immer ein großer Aufwand. Aber er lohnt sich: Die Atmosphäre in St. Sebastian ist etwas ganz Besonderes. Hier werden Musik und Architektur eins.“
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