Ketsch. Im Central heißt es am Montag, 10. Juli, ab 19 Uhr Kirchenkino, wenn der Film „The Whale“ von Regisseur Darren Aronofsky gezeigt wird. Für seine schauspielerische Leistung in dem 117-minütigen Bühnenstückverfilmung erhielt Brendan Fraser einen Oscar – er verkörpert Charlie, der vor Jahren seine Familie verließ, um mit einem Mann zusammenzuleben. Nach dessen Tod versinkt er in tiefer Trauer, entwickelt eine Essstörung und wiegt alsbald über 270 Kilo. Er weiß, das geht nicht mehr lange gut und möchte sich mit seiner Familie, nicht zuletzt mit seiner Tochter Ellie versöhnen. Beim Kirchenkino ist Marion Rung-Friebe zu Gast und freut sich im Anschluss auf das Gespräch. Der stellvertretenden Vorsitzenden des Adipositas Verbands Deutschland, die seit ihrer Kindheit selbst mit Adipositas – also mit der Erkrankung, die auch Fettleibigkeit genannt wird, lebt und in Mannheim und Frankenthal Selbsthilfegruppen leitet, haben wir vorab einige Fragen gestellt.
Im Film „The Whale“ hat sich Charlie von seiner Familie distanziert, stürzt in eine emotionale Krise und entwickelt eine Essstörung. Sein Gewicht steigt auf 270 Kilo – welche Formen von Adipositas gibt es, auch über jene in Film hinaus ?
Marion Rung-Friebe: Adipositas wird in drei Schweregrade unterteilt: Adipositas Grad 1: ab Budy-Mass-Index (BMI) 30, Adipositas Grad 2: ab BMI 35 und Adipositas Grad 3: ab BMI 40. Ab Grad 3 spricht man von einer Adipositas permagma, eine schwere Form der Adipositas, die meist schwere gesundheitliche Folgen mit sich bringt. Der Stoffwechsel arbeitet bei jedem Menschen unterschiedlich. Es gibt Menschen, die fast nie zunehmen, wobei andere das Gefühl haben, wenn sie Nahrung nur anschauen, nehmen sie zu. Auch ein geringer Kalorienüberschuss kann dann schon zu Übergewicht beziehungsweise Adipositas führen. Es gibt krankheitsbedingte Ursachen, so können zum Beispiel chronische Erkrankungen Einfluss auf den Hormonhaushalt oder Stoffwechsel haben. Aber auch auf das Essverhalten. Langfristige Medikamenteneinnahme spielt ebenso eine große Rolle. Und nicht außer Acht lassen darf man auch unsere mittlerweile adipogene Umwelt.
Wie viele Menschen in der Rhein-Neckar-Region sind von Formen der Adipositas betroffen?
Rung-Friebe: Auf die Rhein-Neckar-Region bezogen, kann ich das nicht beantworten. In 2018 waren in Baden-Württemberg 9 Prozent betroffen, in Rheinland Pfalz 10,3 Prozent und am meisten Menschen in Mecklenburg Vorpommern mit 14,2 Prozent betroffen. In Deutschland sind insgesamt 53,5 Prozent der Bevölkerung (46,6 Prozent der Frauen und 60,5 Prozent der Männer) von Übergewicht (einschließlich Adipositas) betroffen. Bei 19 Prozent der Erwachsenen liegt eine Adipositas vor. Während deutlich mehr Männer als Frauen Übergewicht aufweisen, gibt es bei Adipositas keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Welche Folgen von Adipositas sind schlimmer – die körperlichen oder die psychischen?
Rung-Friebe: Die Krankheit Adipositas hat oftmals sehr schwere psychische Folgen, wie zum Beispiel Depressionen und Angstzustände. Man lernt schon recht früh, dass man an dieser Erkrankung selbst schuld ist, willenlos, schwach oder dumm. Blicke, Getuschel, Ablehnung, Mobbing erfährt man immer und überall. Diskriminierung und Stigmatisierung sind an der Tagesordnung. Ein Teufelskreis, aus dem man schwer herauskommt. Manchmal führt das auch zu einem totalen Rückzug aus dem sozialen Leben. Körperliche Beschwerden kommen unweigerlich dazu. Behandler verweigern teilweise Untersuchungen, die dringend gemacht werden müssten, immer mit dem Argument, nehmen Sie ab, dann wird es besser, selbst bei Beschwerden, die nichts mit Adipositas zu tun haben. Auf der anderen Seite haben wir aber auch das Problem, dass Praxen oder Krankenhäuser gar nicht ausgestattet sind für Menschen mit Adipositas. Beide Folgen sind schlimm, aber aus Erfahrung kann ich sagen, für Frauen sind die psychischen Folgen meist schlimmer, da diese immer noch in ein gängiges Schönheitsideal gedrängt werden. Wichtig zu wissen: Erschwerend kommt hinzu, dass im deutschen Gesundheitswesen diese stark wachsende Gruppe der Bevölkerung diskriminiert wird, indem eine bedarfs- und leitliniengerechte Diagnostik und Therapie zwar zum Leistungsumfang der Gesetzliche Krankenversicherung gehört, aber nicht gewährt wird. Die meisten medizinischen Leistungen sind per se im ambulanten Leistungskatalog enthalten, dürfen aber bei der Indikation Adipositas nicht angewandt beziehungsweise verordnet werden. Durch diese ungeregelte Situation erhalten adipöse Menschen nur dann eine Therapie, wenn sie diese hartnäckig bei den Krankenkassen einfordern oder selber finanzieren, was wiederum vielen nicht möglich ist. Scham und Stigmatisierung sind insbesondere für stark adipöse Patienten große Hindernisse, eine Therapie bei Ärzten und Krankenkassen einzufordern.
Zur Person
- Marion Rung-Friebe die in diesem Juli 60 Jahre alt wird, lebt seit ihrer Kindheit mit Adipositas.
- Die seit 1980 mit Dieter Friebe verheiratete Ludwigshafenerin engagiert sich seit 2010 ehrenamtlich dafür, dass Adipositas als chronische Krankheit wahrgenommen und behandelt wird.
- Sie ist stellvertretende Vorsitzende im Adipositas Verband Deutschland, im Vorstand des Adipositas Netzwerks Rheinland-Pfalz und leitet in Mannheim und Frankenthal Selbsthilfegruppen.
- Marion Rung-Friebe ist deutsche und europäische Patientenbeauftragte und im Leitlinien-Komitee der Adipositas-Chirurgie – sie gehört mehreren verschiedenen Arbeitsgruppen an wie zum Beispiel Adipositas und Arbeitswelt oder Adipositas und Diabetes. Darüber hinaus ist sie im Patientenbeirat des Studienzentrums der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie der Universitätsklinik Heidelberg. mab
Es gibt gefühlt Millionen Möglichkeiten, um abzunehmen – aber: Gibt es überhaupt geeignete Methoden (weil auch wirklich nachhaltig und gesund) oder sogar die eine Diät, die Sie empfehlen?
Rung-Friebe: Nein, die eine Diät gibt es nicht. Abnehmen ist auch nicht das Problem. Das Gewicht halten ist das Problem. Unser Körper wird nach einer erfolgreichen Abnahme alles daran setzen, das Gewicht wieder zuzunehmen, meist sogar noch ein paar Kilos dazu. Genau das ist die chronische Krankheit Adipositas.
Was bietet zum Beispiel die Selbsthilfegruppe Mannheim, welche Vorteile habe ich und wie oder wo kann ich die Hilfe in Anspruch nehmen?
Rung-Friebe: Wir sind hier in einem geschützten Rahmen, hier darf jeder sein, wie er ist. Jeder wird so angenommen. Aber das Allerwichtigste ist, hier lernen die Betroffenen, dass Adipositas eine chronische Krankheit ist und keinesfalls selbst verschuldet. Es werden Wege aufgezeigt, was man machen kann, was möglich ist, wo es Hilfe gibt. Es findet ein Austausch ohne erhobenem Zeigefinger statt.
Adipositas SHG Mannheim, Telefon 0172/3 76 39 13, E-Mail marion.rung-friebe@t-online.de – https://www.adipositas-netzwerk.org/shg/adipositas-shg-mannheim/
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