Ketsch. Man schreibt das Jahr 1937: Der 24-jährige Karl Leisner, ein leidenschaftlicher und begabter Mann mit Visionen sowie Student der Theologie, beschreitet ein Außensemester in Freiburg. Karl ist bei der kinderreichen Familie Ruby untergebracht, die ihn als Hauslehrer beschäftigt. Leisner, der die dem Theaterstück zugrundeliegende Aussage „Die Liebe allein ist fruchtbringend für Zeit und Ewigkeit. Sie allein baut auf. Sie ist die wahrhaftige göttliche Macht.“ bestätigte, und die Gastgeber befinden sich unter Beobachtung der Gestapo.
Ungeachtet dieser dunklen Zeit entflammt eine große Liebe zwischen ihm und Elisabeth Ruby, der ältesten Tochter der Familie. Elisabeth ist ein bescheidenes, tiefgläubiges und pflichtbewusstes Wesen, das für Karl madonnenhaft erscheint. Der Student, der sich auch zum priesterlichen Leben berufen fühlt, zerreißt sich über zwei Jahre zwischen Liebe und Berufung. Die junge Frau ermutigt ihn bei seiner Entscheidung zum Priestertum und wird selbst zur Seelsorgehelferin.
Zwei Akte erklingen bei Kulturkirche in Ketsch in unterschiedlichen Tonarten
Kurz vor seiner Priesterweihe wird Leisner, aufgrund einer Bemerkung über das gescheiterte Hitler-Attentat, verhaftet. Hinter dem Stacheldraht des Konzentrationslagers Dachau passiert dann etwas in der Weltgeschichte Einmaliges: Während ein Geiger vor den Kasernen Bachwerke spielt, um die Mannschaften vom Geschehen in der Kapelle abzulenken, wird Leisners Traum, Priester zu werden, lebendig. Seine Existenz unter unmenschlichen Bedingungen bekommt Tupfer der Freude und er hält seine erste, einzige und letzte Messe.
Das in zwei Akte unterteilte und musikalisch untermalte Theaterstück, das mit tiefgründigen Prologen und Epilogen umrahmt ist, erklingt in verschiedenen Tonarten: Während der erste Teil meistens hell, farbig und schwungvoll gestaltet ist, wird im zweiten Element auf düster-dramatische Akzente gesetzt. Alle Darsteller sind Musiker und bespielen ihre Instrumente oder singen, wobei die Instrumente, vor allem das Klavier, zu Darstellern werden.
Die künstlichere Herangehensweise der Aufführung geht dabei in die Richtung des unvollendeten Werkes „Mysterium“ von Alexander Skrjabin – ein Versuch alle Künste in einen Einklang zu bringen.
Gekonnte Idee und Umsetzung von "Sieger in Ketten"
Schon seit dem Tod des Schwetzinger Künstlers Otto Eberhardt arbeitet Tatjana Worm, Leiterin der gleichnamigen Musikschule, mit dessen Archiv. Dies mit dem Wunsch, einen russischsprachigen Roman über Eberhardts Eltern zu verfassen. Im Zuge ihrer Nachforschungen stieß Worm in einem Artikel auf den Satz: „Am 21. Mai vor 80 Jahren verabschiedete sich Karl Leisner von Elisabeth Ruby“. Mit Erstaunen erkannte sie auf dem Titelfoto eine Verwandte der Eberhardts und las die atemberaubende Liebesgeschichte zweier junger Menschen, die sich für den Weg zu Gott entschieden haben.
Worm, die von dieser Erzählung gleichermaßen ergriffen und mitgenommen war, wurde bei ihren Recherchen auf eine fünfbändige Sammlung von Tagebüchern und Briefen Karl Leisners aufmerksam, welche ihr eine bisher unbekannte Welt des Widerstandes des Katholizismus gegen den Nationalsozialismus öffnete.
Nachdem sie grundlegende Informationen zu Leisner im Karmel Heilig Blut, ein Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen in Dachau, auftat, schrieb Worm das Szenarium zu Sieger in Ketten, dessen Regie sie ebenfalls führt. Parallel dazu verfassten ihre Schüler die Musik zum Text.
Idee zu Theaterstück in Ketsch entspringt Gruppierung aus KZ Dachau
Im KZ Dachau wurde die Gruppierung „Victor in vinculis Mariae“ – zu deutsch: Sieger in Ketten von Maria – gegründet, deren Mitglied auch Leisner war. Die letzten Worte des Priesters waren: „Segne auch, Höchster, meine Feinde“, aufgrund dessen er und seine Mithäftlinge als Sieger auf seelischer und geistiger Ebene hätten angesehen werden können.
Entsprechend dazu erklingt am Ende des Stücks das jüdische Lied „Dona“, in dem es heißt: „Doch wer Flügel hat, kann fliegen und ist keines Menschen Knecht.“
In einem analogen Licht erscheinen auch die Worte von Leisner: „Zur Freiheit hat Christus euch befreit; werdet nicht Knechte des Menschen.“ Worm führt weiter aus: „Die Sieger in Ketten sind die Schwalben in der Haut des Kälbchens – der Leib wird zum Schlachten gebracht, aber die Seele ist frei. Man könnte eine Parallele zwischen der Liebesgeschichte von Karl und Elisabeth und der Liebe zwischen Abälard, einem Erfinder des poetisch-musikalischen Genres Klagelied, und der Philosophin Heloise ziehen. In Tagebüchern von Karl fand ich eine Art des Klageliedes oder Psalms. In der Aufführung rezitiert Karl aus diesen Aufzeichnungen in der Begleitung von ,Dies irae’ auf der Orgel. Ich nenne dieses Kapitel, das der Liebe gewidmet ist, ,Klage von Abälard oder die neue Heloise’, was als Anspielung auf den Roman ,Julie oder die neue Heloise’ von Jean-Jacques Rousseau verstanden werden kann.“
Stück von Kulturkirche in Ketsch ist Zusammenarbeit verschiedener Institutionen
„Sieger in Ketten“ entstand aus einer Zusammenarbeit zwischen der Musik- und Theaterschule Tatjana Worm sowie der Kulturkirche Ketsch, die aus dem Pfarrgemeinderat der römisch-katholischen Kirchengemeinde Brühl/Ketsch entstanden ist. Deren Anliegen ist es, „die Kirche mit Menschen zu füllen“, wofür sie die Räumlichkeiten von St. Sebastian für kulturelle Veranstaltungen nutzt.
Für die Komposition der Musik des Chors zeichnet Grigor Arakelian, ein armenischer Dirigent, Komponist und Violinist, verantwortlich. Als einziger Geiger fungiert Daniel Spektor, Konzertmeister der Churpfälzischen Hofkapelle und Mitglied des Ensembles „La Rosa Enflorece“.
Die sprachliche Vertonung obliegt dem elfköpfigen Chor Cantiamo, unter Leitung von Bernhard Sommer. Die Orgel verantwortet Charlotte Steinberg. Eva Bruckner fungiert als Pianistin und Liedermacherin des Theaters. Schwester Lisa Bruckner, Pianistin und Dichterin, verfasste das Gedicht „Freiheit zu fallen“, welches das Wesen der Kapelle des Priesterblocks in Dachau umschreibt. Inspiriert von Pianistin Franka Hellmann kam Worm zu der Idee, die Monologe mit musikalischer Begleitung vorzutragen.
Dirigent Leonard Diehm tritt das erste Mal als Schauspieler in Person von Karl Leisner auf und teilt sich die Hauptrolle mit Hellmann, die Elisabeth Ruby verkörpert. Michael Rittmann, Vorsitzender von TonArt, ein Verein für kreative musikalische Bildung, begleitet die Organisation der Aufführung und tritt auf der Flöte in Erscheinung. Schlussendlich verantworten Worms „älteste“ Schülerin, Margarita Hofmann, die tänzerische Darstellung und Christa Gerach-Weiß die Kostüme.
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