Oftersheim. Es geht in den nächsten Jahren um den massiven Ausbau von erneuerbaren Energien. In Deutschland, im Südwesten und in der hiesigen Rhein-Neckar-Region. Und am Ende steht eine Sicherheit der Verbraucher, die auf möglichst unabhängige, klimafreundliche und nachhaltige Energieversorgung basieren soll. Dass diese Zukunft mit Sonne, Wasser, Wind, Biomasse und Geothermie (Erdwärme) im Gegensatz zu fossilen Energieträgern erfolgen soll und muss, ist fast jedem klar. So weit zur Theorie.
Und nun zur Praxis: In der knapp 12 500 Einwohner zählenden Gemeinde Oftersheim herrscht in den letzten Tagen große Aufregung. Insbesondere im Gebiet, das als „Musebrotviertel“ bekannt ist und an Schwetzingen angrenzt. Denn sogenannte Vibrationsfahrzeuge des von der Geohardt GmbH, einer Tochtergesellschaft von EnBW und MVV, beauftragten Dienstleisters DMT haben sich auf vorgegebene Routen begeben, um im Süden des 7000 Hektar großen Potenzialgebiets, das die sieben Kommunen Mannheim, Brühl, Ketsch, Schwetzingen, Plankstadt, Heidelberg und Oftersheim umfasst, an festen Messpunkten und mithilfe von Geophonen seismische Wellen zu erfassen.
Hintergrund: Geothermie
- Was ist das? Geothermie bezeichnet die in der Erdkruste gespeicherte Wärmeenergie und die ingenieurtechnische Nutzung. Sie kann zum Heizen, Kühlen und zur Stromerzeugung eingesetzt werden. In Deutschland steigt die Temperatur in der Erdkruste durchschnittlich um 3 Kelvin pro 100 Meter an.
- Oberflächennahe Geothermie: Als oberflächennahe Geothermie gilt die Nutzung der Erdwärme aus bis zu 400 Meter Tiefe. Wärme aus diesem Tiefenstockwerk muss aufgrund der noch relativ geringen Temperatur auf ein nutzbares Temperaturniveau gehoben werden.
- Tiefe Geothermie: Diese stößt gegenüber der oberflächennahen Nutzung von Erdwärme in andere Dimensionen vor. Es werden nicht nur Wärmereservoire in größeren Tiefen erschlossen und Bohrlöcher von bis zu fünf Kilometer Tiefe gebohrt. Die damit betriebenen Anlagen sind wesentlich größer und leistungsfähiger. Mit Erdwärme aus der Tiefengeothermie werden Wärmenetze gespeist und ganze Stadtviertel mit Heizwärme versorgt. Bei adäquatem Temperaturniveau kann mit einem Geothermiekraftwerk Strom erzeugt werden.
- 3D-Seismik: Anfang Januar sind die 3D-seismischen Messungen der Schwetzinger Geohardt GmbH gestartet. Durch Voruntersuchungen wurde ein sogenanntes Potenzialgebiet ermittelt, das Gemarkungen der sieben Kommunen Mannheim, Brühl, Ketsch, Schwetzingen, Plankstadt, Heidelberg und Oftersheim betrifft. In diesem rund 7000 Hektar großen Gebiet werden mittels 3D-Seismik geeignete Bohrstandorte gesucht, um drei potenzielle Standorte für Geothermie-Heizwerke festzulegen. Alles geschieht in Absprache mit den genannten Kommunen.
- Weitere Informationen gibt es auf der Projekt-Homepage von Geohardt unter www.geothermiehardt.de. jog
Hierbei wird ein dreidimensionales Abbild des Untergrunds erstellt. In einer Pressemitteilung der Geohardt vom 3. Januar heißt es über die Arbeit der Messtruppen: „Dabei werden an circa 6000 Anregungspunkten Schallwellen in den Untergrund abgegeben. Die Verweildauer je Messpunkt beträgt dabei circa drei Minuten und die Geräuschentwicklung ist nur von kurzer Dauer.“
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Wahrnehmung von Anwohnern eine komplett andere ist. Die Schwetzinger Zeitung erhielt mehrere erboste Anrufe. Ilse Jaeger (80) aus der Dürerstraße 7 war geschockt, als die Kolonne der Vibro-Trucks – maximal zwei mit bis zu drei aneinandergereihten Fahrzeugen mit ihren Rüttelplatten Schwingungen in den Boden vor ihrem Haus aussendeten. „Überall hat der Boden gebebt, es war unerträglich“, berichtet sie, „es ging wie ein Elektroschlag durch meinen ganzen Körper. Ich dachte schon, ich habe einen Herzinfarkt. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Geothermie in Oftersheim: Ilse Jaeger: „Es ist beschämend“
Sie hatte ein Buch gelesen. Doch von einem Moment auf den anderen lösten die Vibrationen Verunsicherung, Panik und Ängste aus. Sie musste sich übergeben. Nachdem sie sich berappelt hatte, rief sie beim Rathaus sowie bei Geohardt direkt an. Während der Mitarbeiter vom Bauamt sie an die zuständige Firma verweist, bekomme sie von dieser die Antwort, sie solle sich einen Arzt holen. „Der Firma, aber auch der Gemeinde war es vollkommen egal, was mit mir ist. Es ist beschämend, wie rücksichtslos mit uns Bürgern umgegangen wird“, sagt Jaeger und ihre Stimme zittert dabei.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Nachbar Thomas Engelhart, ein bekannter Musiker in der Region. „Tommy“ Engelhart spielte schon in verschiedenen Bands, seine Hauptinstrumente sind Saxophon und Klarinette, und als Musiker wie Musiklehrer verfügt er eben über ein gutes Gehör. „Mir war seltsam wie bei Schwindel. Es hat Rumms gemacht und es war eine minutenlange Dauervibration mit schwerem Gerät“, beschreibt Engelhart die groteske Szenerie, „ich fand das unerträglich und übergriffig.“
Andere Leute im Viertel seien völlig aufgelöst gewesen, vor allem ältere Menschen. Er könne deren Gefühlswelt nachvollziehen. „Das Schlimmste ist ja das Ausgeliefertsein der Sache gegenüber, plötzlich ist man unmittelbar davon betroffen“, so Engelhart weiter. Er habe zwar aus der Zeitung erfahren, dass die 3D-Messungen beginnen, doch er habe nicht gewusst, dass die mächtigen Fahrzeuge durch die Straßen fahren und eine Schleife drehen. Auf Nachfrage verneint Engelhart, dass die Bewohner im Vorfeld Flyer von Geohardt informiert worden seien.
Engelharts Schwester aus Ketsch besucht ihn derweil, sie essen zusammen. Es fühlt sich an „wie bei einem Erdbeben“, sagt sie über die Geräuschkulisse. Das Geschirr wackelt, die Nahrung hüpft auf dem Teller. Menschen wie Gegenstände werden durchgerüttelt und durchgeschüttelt. Die Leute aus den umliegenden Häusern schauen aus den Fenstern raus oder treffen sich auf der Straße. Eine Frau habe kundgetan, so müsse es sein, „wenn der Krieg ausbricht“. Anna Krämer, im gleichen Haus wie Engelhart in der Dürerstraße wohnhaft, gehört zur Formation des Musikkabaretts „Schöne Mannheims“ und erzählt, dass sie die Arbeiter der „Rüttelautos“ angesprochen hätten. „Wir haben darauf hingewiesen, dass gerade ältere Menschen durch die Vorgänge wie traumatisiert sind“, meint Anna Krämer. Engelharts Schwester ergänzt: „Die Arbeiter schütteln nur mit dem Kopf.“
Geothermie in Oftersheim: Gemeinde per Mail informiert
Oftersheims Bürgermeister Pascal Seidel hat Kenntnisse über die Vorgänge. Erläutert, dass die Gemeinde am 4. Januar darüber informiert worden sei, dass die Befahrungen Mitte Januar starten würden. Im Rahmen der letzten Gemeinderatssitzung vor Weihnachten habe man auf die Veranstaltung am 18. Dezember in Schwetzingen hingewiesen, bei der es auf dem Alten Messplatz einen Infostand gab und ein Vibrationsfahrzeug vorgestellt wurde. Außerdem habe die Verwaltung am 9. Januar über die eigene Homepage die nunmehr beginnenden Messungen angekündigt.
Seidel betrachtet die Lage differenziert. Geärgert hat sich der Rathauschef über einen Facebook-Post, in dem behauptet wird, „in Oftersheim sollen drei Geothermiekraftwerke entstehen“. Seidel verantwortungsbewusst: „Ich kann die Oftersheimer Bevölkerung angesichts der Diskussion auf Facebook dahingehend beruhigen, dass ein Geothermieprojekt ganz sicher nicht hinter verschlossenen Türen auf den Weg gebracht werden würde.“
Sisyphusarbeit steht allen Beteiligten bevor. In Sachen Geothermie allemal.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Geothermie: Die Folgen der Unwissenheit