Oftersheim. „Zu Beginn habe ich den hiesigen Dialekt nicht verstanden und die Kinder haben mich nicht verstanden, wenn ich Hochdeutsch sprach und sagte, ich wolle eine ‚Schnitte Brot‘“, berichtet Roland Seidel von seiner frühen Reise vom östlichen Tschechien bis nach Oftersheim. Er wurde am 24. November 1941 in Koberno (deutsch Kawarn) geboren, einem kleinen Ort im damaligen Sudetenland, heute Tschechien, nahe der polnischen Grenze. Seine frühen Jahre waren geprägt von den dramatischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und den großen Veränderungen, die Europa und seine Bewohner in jenen Jahren erfuhren. Die Geschichte seiner Familie, die Flucht aus der Heimat, das Ankommen und Wachsen in Oftersheim erzählt von Mut, Durchhaltevermögen und der Kraft des Neuanfangs.
Verlassen der Heimat – Flucht und Vertreibung
Im März 1945, als die Front der Roten Armee immer näher rückte, musste die Familie Seidel, bestehend aus der Mutter den Heimatort Kawarn verlassen. Der Vater Karl war zu der Zeit in tschechischer Gefangenschaft. Das war ein schwerer Schritt, denn die Kinder – Helmut (1932), Gottfried (1937), Roland (1941) und Sieglinde (1944) – waren noch klein. Die beiden jüngsten Geschwister Edeltraud und Manfred wurden 1947 und 1950 in Deutschland geboren.
Die Flucht erfolgte mit zwei Pferdegespannen in mehreren Etappen, führte über Heinzendorf, Altvogelseifen und Römerstadt bis nach Weikersdorf nahe Mährisch Schönberg, wo die Familie das Kriegsende erlebte. Am 17. Mai 1945 kehrten sie zurück nach Kawarn, doch die Umstände waren schwierig: Das Elternhaus war ausgeplündert, Strom und Wasser fehlten, und die Familie lebte dort bis Februar 1946 unter widrigen Bedingungen.
Im Sommer 1945 war Vater Karl, wie viele Männer seines Alters, zur Zwangsarbeit eingezogen worden und erst später wieder auf der Flucht zu seiner Familie gestoßen. Im Mai 1946 erhielt die Familie den Bescheid, die Heimat endgültig verlassen zu müssen. Mit nur 75 kg Gepäck pro Person begann die zwangsweise Umsiedlung per Viehtransport. „Wir hatten aber eh nicht mehr viel, die Russen hatten uns alles weggenommen“, berichtet Roland Seidel. „Meine kleine Schwester war erst zwei Jahre alt, das war eine beschwerliche Reise für meine Eltern.“ Der älteste Bruder war immerhin schon 14 und konnte mit anpacken.
Zunächst kamen sie in ein Sammellager bei Jägerndorf, wo Familien wieder zusammengeführt wurden. Mitte Mai begann der Transport mit Viehwaggons, der sie über Furth im Wald nach Deutschland brachte. Eine erste Station war Hockenheim, wo sie in einem Schulgebäude untergebracht wurden. 1946 kam die Familie Seidel in Oftersheim an – ein Neuanfang in einem fremden Land, mit kaum Besitz und ohne den Vater an ihrer Seite. Sie wurden zunächst im großen Saal der Gaststätte „Kronprinzen“ untergebracht. Das erste eigene Zuhause war ein Zimmer im Haus des Landwirts Wendelin Koppert an der Mannheimer Straße, Ecke Walldorf, wo heute das Siegwald-Kehder-Haus steht. „Wir wohnten zu sechst in einem Zimmer“, erzählt Seidel. Später zog die Familie auf den Bauernhof des Landwirts Lindner, wo sie dann zwei Zimmer bewohnten.
Ankunft und Integration in Oftersheim
Die Jahre danach waren geprägt von harter Arbeit und gegenseitiger Unterstützung. 1952 konnte die Familie ein eigenes Haus auf dem ehemaligen TSV-Sportplatz in der Jahnstraße bauen. „Wir hatten dort einen kleinen Stall mit Hühnern. Als wir älter wurden, haben meine drei Brüder in dem kleinen Stall gewohnt“, lacht Seidel. Eine weitere Herausforderung war die vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen aus Ostpreußen, die haben im ersten Stock des kleinen Hauses gewohnt – ein Spiegelbild der vielen Schicksale, die nach dem Krieg in Deutschland zusammentrafen.
Rolands Vater Karl, ein gelernter Schreiner und handwerklich sehr versiert, trug maßgeblich zum Familienunterhalt bei. Die Mutter Irma verfolgte strikt das Prinzip „Keine Schulden machen“, eine eiserne Regel, die der Familie Stabilität gab. Trotz der Belastungen schafften es die Eltern, sechs Kinder zu versorgen – eine Leistung, die Roland bis heute beeindruckt.
Schulzeit und Jugend – Wurzeln schlagen in der neuen Heimat
Mit fünf Jahren wurde Roland Seidel in die Friedrich-Ebert-Volkschule eingeschult. Nach der Grundschule besuchte er das Hebel-Gymnasium in Schwetzingen. Anfangs legte er den Schulweg zu Fuß zurück, später fuhr er bei jedem Wetter mit dem Fahrrad. 1961 schloss er seine Schulzeit mit dem Abitur ab und erhielt als Anerkennung für sein Geigenspiel den Musikpreis.
Auch seine Geschwister gingen ihren Weg: Bruder Helmut besuchte ebenfalls das Gymnasium, während Sieglinde und Edeltraud die Mittlere Reife erwarben. Gottfried wurde Schreiner, und Manfred machte eine Ausbildung zum Kaufmann. Die bescheidene Lebensweise der Eltern nötigt ihm großen Respekt ab. Arbeit, Bodenständigkeit, Sport und Musik (Vater, Onkel und Roland Seidel waren passionierte Violinisten) haben den Alltag geprägt.
1966 besuchte die ganze Familie gemeinsam den Geburtsort Kawarn. Die Mutter hatte bei der Flucht Wertgegenstände sowie ihren Schmuck im Wald vergraben. Danach gruben die Seidels – habe allerdings nichts mehr davon finden können. Das alte Haus war recht heruntergekommen, es stand noch immer leer, die Scheune war zusammengefallen. Die Eltern wären damals gerne zurückgegangen, aber das Haus ließ sich nicht mehr herrichten. Viele hatten sich dort „bedient“ und sich Material für den Eigenbedarf geholt. Irma und Karl Seidel nahmen an Treffen des Bundes der Vertriebenen teil und tauschten sich mit Schicksalsgenossen aus. Diese Erfahrung nämlich, nach Kriegsende vertrieben zu werden, teilten die Seidels mit etwa 15 Millionen Deutschen, die ihre Heimatgebiete in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa verlassen mussten. Diese Vertreibung gehört zu den größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Wege in die Selbstständigkeit und soziales Engagement
Sport spielte für Roland eine große Rolle. Besonders der Handballsport begeisterte ihn. Er spielte in Oftersheim Feldhandball auf höchstem Niveau in der Bundesliga und wurde während seines Studiums mit der Universitätsmannschaft Hochschulmeister. Er war auch ein sehr guter Leichtathlet und Fußballer, „alles, was mit Bällen zu tun hatte und kompetitiv war, hat mich begeistert“, erzählt er im Gespräch. „Mann gegen Mann, das ist immer gut“, lacht er. Genauso gerne fuhr er Ski, wanderte und kletterte. So bestieg er den höchsten Berg Österreichs, den Großglockner bis auf 3.798 Meter. Und er war von 1987 bis 2011 Vorsitzender des TSV Oftersheim – 24 Jahre lang.
Ausbildungstechnisch und beruflich hat Roland Seidel das Bestmögliche herausgeholt. Er studierte an der Universität Heidelberg Sport und Französisch. Gönnte sich zwischendurch ein Auslandsjahr und „Savoir vivre“ in Lyon. Er arbeitete in verschiedenen Nebenjobs, zum Beispiel im Golfclub Oftersheim und als Handballtrainer. „Da habe ich 800 Mark im Monat verdient“, berichtet er.
Sport schloss er ab, Französisch nicht – sodass Seidel zunächst als „Nebenlehrer“ in Schwetzingen, Mannheim, Oftersheim und Lampertheim tätig war. 1982 bewarb er sich beim Erlebnisbad Bellamar, wurde Betriebsleiter, später, unter Schwetzingens Oberbürgermeister Gerhard Stratthaus, gar Kulturamtsleiter. Das Bellamar wurde einfach in dieses Amt integriert. Der offizielle Eintritt in den Unruhestand erfolgte 2007. Seit 1971 ist er mit seiner Frau Gisela verheiratet. Sie war die Wirtshaustochter des „Goldenen Hirsch“. Nächstes Jahr feiern die beiden Platinhochzeit. Die Söhne Marcel und Pascal kamen 1979 und 1982 zur Welt. Auch die vier Enkelkinder sorgen für großen Freude beim stolzen Großvater. Die Sportbegeisterung hat sich auf sie übertragen - sie sind aktive Fußballer und Eishockeyspieler.
Ein besonderes Engagement zeigte Roland Seidel auch früh in der Kommunalpolitik: Mit 27 kam er damals für die FDP/Oftersheimer Liste in den Gemeinderat, wechselte 1972 zur Freien Wähler Vereinigung (FWV), die sich in Oftersheim gegründet hatte. Sein Credo: „Ich wollte nie in eine Partei. Ich mache ‚nur’ Kommunalpolitik, kümmere mich um all das, was auf Ortsebene los ist.“ Seidel war einige Zeit auch Fraktionssprecher und berichtet nicht ohne Stolz: „Wir haben erst die SPD und dann die CDU als stärkste Fraktion abgelöst.“ Nach 53 Jahren im Gemeinderat hat er aufgehört, „unter anderem auch deshalb, weil mein Sohn Pascal als Bürgermeister kandidierte“. Roland Seidel war viele Jahre selbst Bürgermeisterstellvertreter. „Ich wusste, dass es ein anstrengender Job als Gemeindeoberhaupt ist, aber ich habe mich herausgehalten“, erzählt er. 2018 bekam er von Staatssekretär Dr. Andre Baumann das Bundesverdienstkreuz am Bande ans Revers geheftet.
Rückblick und persönliche Eindrücke
Trotz aller Widrigkeiten fühlte sich Roland Seidel in Oftersheim nie als Flüchtling. „Ich fühlte mich immer angenommen und integriert“, sagt er. Sport und Gemeinschaft waren wichtige Säulen in seinem Leben, die ihm Halt gaben und bei der Integration halfen. „Meinen Geschwistern ging es ähnlich.“
Die Lebensgeschichte von Roland Seidel ist eine beeindruckende Erzählung von Flucht, Ankommen und dem Aufbau eines neuen Lebens. Aus schwierigen Anfängen entstand eine stabile Familie, tief verwurzelt in Oftersheim, geprägt von harter Arbeit, Ehrlichkeit und einem starken Gemeinschaftssinn.
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