Oftersheim. Seit den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts, genauer gesagt um das Jahr 1710, hing hoch oben auf dem Turm des ehrwürdigen Oftersheimer Rathauses ein kleines, aber weithin bekanntes Glöcklein. Es trug den volkstümlichen Namen „Lumpenglöckchen“. Fast drei Jahrhunderte lang schwang es dort sein helles Glockengeläut in die Lüfte und prägte den Pulsschlag des Dorflebens. Sein Name war Programm: Nacht für Nacht, wenn die Polizeistunde schlug und die letzten Zecher sich nur widerwillig von den Wirtshaustischen erhoben, mahnte das Glöckchen mit hellem Klang zum Heimweg. Doch es erfüllte nicht allein weltliche Aufgaben – auch kirchliche Dienste fielen ihm zu. Und gerade darin lag der Keim zu manchem Zwist, denn es war ein stetes Streitobjekt zwischen weltlicher Obrigkeit und geistlicher Macht.
Den Grundstein zu diesem jahrhundertelangen Ringen hatte der Kirchenvertrag von 1705 gelegt. In ihm war den Katholiken das Recht eingeräumt worden, ein eigenes Glöckchen auf dem Rathausturm zu besitzen. Solange die katholischen Landesherren über die Region walteten – bis zum Jahre 1803 –, blieb die Lage nach außen hin ruhig, und das Glöckchen durfte unbehelligt seine Aufgabe erfüllen. Doch der Friede war nur ein trügerischer, und mit dem Wandel der politischen Verhältnisse begannen die alten Konflikte erneut zu schwelen.
Andauernder Streit um die Deutungshoheit über das Glockenspiel
So kam es um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu wiederholten Reibereien. Die politische Gemeinde und die katholische Kirchengemeinde lagen im Widerstreit um die Deutungshoheit über das kleine Glockenspiel. In dem Bestreben, den Dauerzank ein für alle Mal zu beenden, beschloss die Gemeinde, auf eigene Kosten ein neues Glöcklein anzuschaffen. Ende November 1871 sollte dieses am frisch erbauten Rathaus seinen Platz finden.
Doch anstatt den Streit zu befrieden, entflammte er nun erst recht. Die katholische Gemeinde fürchtete, beim nahenden Abbruch des alten Rathauses ihres vertrauten Läutens beraubt zu werden. Ein heftiger Schlagabtausch an Briefen, Eingaben und Forderungen zwischen beiden Seiten folgte. Erst im Jahre 1872 gelang eine Verständigung, die beide Parteien besänftigte: Die politische Gemeinde verpflichtete sich, künftig das Läuten bei katholischen Beerdigungen zu übernehmen.
Von da an kündete das neue Gemeindeglöcklein beim Ableben eines Bürgers täglich um 11 Uhr vom Eintritt des Todes – gleichgültig, ob der Verstorbene katholischen oder evangelischen Glaubens war. Um ihre Versöhnungsbereitschaft zu bekräftigen, schaffte die Gemeinde im Jahr 1888 sogar eine zweite, größere Glocke an, die fortan gemeinsam mit der kleinen bei katholischen Begräbnissen ertönte. Und doch blieb das alte „Lumpenglöckchen“ erhalten – es erklang weiter in treuer Gewohnheit, nun allerdings in Regie der politischen Gemeinde, und rief die nächtlichen Gäste noch jahrzehntelang abends um Viertel vor elf Uhr zur Heimkehr.
Glocken wurden 1965 ausgebaut
Ein letztes Mal jedoch sollten seine hellen Töne die Herzen der Oftersheimer bewegen: Am Heiligen Abend des Jahres 1964, Punkt 16 Uhr, nahm die ganze Gemeinde Abschied von ihren beiden Rathausglocken. Mit ihrem letzten Geläut luden sie die Menschen ein, auf dem Waldfriedhof eine feierliche Gedenkstunde zu begehen. Tief bewegt lauschten viele Oftersheimer, wohl wissend, dass mit dem Ausbau der Glocken zu Beginn des Jahres 1965 ein altes Stück Dorftradition zu Ende ging. Es war das Ende eines klingenden Kapitels Ortsgeschichte, das Generationen begleitet hatte.
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Doch das „Lumpenglöckchen“ und seine Schwester verschwanden nicht sang- und klanglos. Man setzte sie würdig auf den Brunnen vor dem neuen Rathaus. Dort stehen sie noch heute, nicht mehr als mahnendes Nachtzeichen, sondern als ehrwürdige Erinnerung an die wechselvolle Geschichte, die sie über Jahrhunderte mitgestaltet haben.
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