Reilingen. Sie kommen am frühen Abend des 30. Mai 1945: Angestachelt vom einstigen Gestapo-Mann Bedrich Pokorny treiben tschechische Mitarbeiter des Brünner Rüstungswerks aus Rache für die Verbrechen der Nazi-Besatzer - die Wehrmacht kapitulierte am 8. Mai - ihre deutschen oder Deutsch sprechenden Mitmenschen aus deren Wohnungen und in Richtung Augustinerkloster, wo die Opfer zentral interniert werden. Am nächsten Morgen, es ist Fronleichnam, zwingen sie rund 27.000 Personen aus Brünn und den umliegenden Dörfern zu einem 60 Kilometer langen Fußmarsch an die österreichische Grenze.
Es handelt sich überwiegend um Frauen, Kinder und alte Männer, von denen mindestens 2.000 – neuere Untersuchungen nennen rund 5.200 – nicht überleben. Sie werden ermordet, sterben an Erschöpfung, Hunger und Durst oder erliegen Seuchen wie Typhus, die sich wegen der fehlenden Hygiene unter ihnen ausbreiten. Dieses Verbrechen geht als Todesmarsch von Brünn in die Geschichte ein.
Mit dabei waren Jürgen Golds Verwandte, ihm selbst blieb die brutale Aktion durch die Gnade seiner deutlich späteren Geburt erspart. „Sie haben 15 Familienmitglieder vertrieben, darunter meine Großmutter Marie, meine Cousine Maria sowie ihre Brüder Herbert und Franz und meine Tante Rosa“, erzählt er. „Gott sei Dank haben sie alle überlebt.“ Das gleiche einem Wunder.
Ausführlich mit ihnen über die schrecklichen Erlebnisse reden konnte der heute 66-Jährige nicht. Als die Gelegenheit theoretisch noch bestand, sei er zu jung gewesen. Es ist ihm jedoch wichtig, dass der Todesmarsch nicht in Vergessenheit gerät – ebenso wenig wie die anderen Gräueltaten und Verbrechen, die von allen Seiten im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit begangen wurden.
Der Reilinger erinnert sich: „Wurden als fünfte Kolonne Hitlers beschimpft“.
Bis heute bewahrt der Reilinger deshalb den Mitschnitt eines Radio-Interviews mit einem Zeitzeugen aus den 1980er-Jahren auf, in dem dieser seine Erinnerungen an die furchtbaren Umstände beim Todesmarsch schildert. Diesem Mann zufolge gehörten neben Tschechen auch Russen zu den Bewachern. Sie hätten die Vertriebenen mit Peitschen und Karabinern erbarmungslos vorangetrieben und mit Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen. Frauen und Mädchen seien zum Beispiel in Zwischenlagern vergewaltigt worden.
„Sie haben uns als fünfte Kolonne Hitlers beschimpft“, sagt er auf der Aufnahme. Diese Angaben passen zu denen anderer Überlebender, die außerdem berichten, dass diejenigen, die völlig entkräftet zusammenbrachen, am Ende des Zugs erschossen und in den Straßengraben befördert wurden. Zugleich haben die Vertriebenen immer wieder betont, dass es entlang der Strecke auch hilfsbereite Menschen gab, die sie mit Brot und Wasser versorgen wollten. Doch die Bewacher hätten diese teils mit Schlägen und Tritten daran gehindert.
Von der alten Heimat kommt der Reilinger zur Versöhnung in Brünn
Golds Verwandte haben die kaum vorstellbare Tortur durchgestanden, bis sie in einem Auffanglager ankamen. Danach gefragt, wohin sie nun möchten, hätten sie Bavaria genannt, Bayern. Verschlagen hat es sie dann nach Neckarzimmern, eine neue Heimat haben sie in Neckarelz gefunden. Sein Vater Friedrich diente im Krieg zunächst als Rettungssanitäter in Norwegen und befand sich 1945 noch in US-Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung arbeitete er für die Amerikaner in der Lüttich-Kaserne in Mannheim. „Bei einer Tour mit Freunden lernte er in Reilingen meine Mutter kennen“, verrät Gold.
Der früheren Heimat seiner Familie hat er 1982 erstmals einen Besuch abgestattet. Deren ehemaliges Haus habe noch gestanden. Die Straße in Znaim sei nach wie vor nicht befestigt gewesen, erinnert er sich. Überrascht habe ihn die Gastfreundschaft der damaligen Eigentümer: „Sie haben uns mit Speck, Brot und Wein bewirtet.“
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Zum 80. Jahrestag des Todesmarschs ist er nach Brünn gereist, um dort am Versöhnungsmarsch teilzunehmen. Dieser wird vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie vom Bundesinnenministerium gefördert und findet eingebettet in das Kulturfestival „Meeting Brno“ statt.
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