Flutkatastrophe - Thomas Große und Michael Lauer fahren seit Monaten in die betroffenen Gebiete / Mitfühlende und anpackende Menschen besonders wichtig

"Reilinger Engel" helfen im Ahrtal

Von 
Christina Lourenco
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Reilingen/Ahrtal. Engel – gerade jetzt in der Weihnachtszeit sind sie allgegenwärtig. Käuflich zu erwerben und hergestellt aus unterschiedlichen Materialien und in verschiedenen Farben. Mal dezent, mal quietschbunt, meist aber mit Engelsflügeln und Heiligenschein. Doch unabhängig von ihrer Gestaltung, rufen sie meist liebevolle Gedanken und Emotionen in uns hervor. Nicht immer denken wir sofort an den religiösen Hintergrund.

Natürlich bringen sie die meisten Menschen mit dem Weihnachtsfest in Zusammenhang, doch laut Definition hätten sie als Boten oder Abgesandte Gottes durchaus das ganze Jahr hindurch eine Daseinsberechtigung. Gerade dann, wenn man sie nicht nur als Boten oder Verkündende anerkennt, sondern in ihnen vielmehr Überbringer von Gutem sieht, „helfende Engel“, Lichtbringer in dunklen Zeiten, die andere mit Worten und Taten unterstützen, für andere da sind zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie leihen anderen ihr Ohr und zeigen Verständnis für deren Probleme.

Flutkatastrophe

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Diese Probleme können von kleinerer Bedeutung sein, aber bis hin zu existenzvernichtendem Ausmaß reichen, wie es in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli bei der Flutkatastrophe im Ahrtal der Fall war. Selbst heute noch, fünf Monate danach, erreichen die Auswirkungen kaum vorstellbare Dimensionen. Die Zerstörungen sind nach wie vor weitreichend und ähneln einem Kriegsszenarium. Die Infrastruktur konnte bisher kaum bis gar nicht wiederhergestellt werden, sodass die Grundversorgung durch Wasser, Strom, Gas oder auch Lebensmittel, Medikamente oder Hygieneprodukte bis zum jetzigen Zeitpunkt im Argen liegt.

Unvorstellbares Ausmaß

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Was wäre, wenn man selbst in eine solche Situation käme? Diese Frage dürften sich viele zum Zeitpunkt der Katastrophe gestellt haben. Sicherlich einer von vielen Beweggründen, warum bundesweit tausende Menschen den Weg ins Katastrophengebiet antraten, um dort zu helfen. Hilfe wurde auch dringend benötigt, denn einerseits war die materielle Zerstörung von unvorstellbarem Ausmaß, andererseits hinterließ das Geschehen mental tiefe Spuren. Die Anzahl Suizidgefährdeter schnellte in die Höhe. Man könnte also sagen, helfende Engel in Form von mitfühlenden und anpackenden Menschen waren von größter Not.

Auch die beiden Reilinger Thomas Große und Michael Lauer verspürten sofort den Drang, vor Ort helfen zu wollen. „Ich weiß, was es bedeutet, wenn Menschen alles verlieren. Das Leid ist enorm und tut einem leid, mit anzusehen“, erklärt Thomas Große auf die Frage, wie alles begann und warum er sich zur Hilfe berufen fühlte. Aus dieser Motivation heraus schlüpften er und sein Freund Michael Lauer wie so viele andere in die Rolle helfender Engel, um vor Ort wertvolle Hilfe zu leisten.

Als Engel wollen sie sich aber beide nicht sehen. „Auf dieses Podest möchten wir nicht erhoben werden“, so Michael Lauer. „Engel vollbringen Wunder. Wir vollbringen keine Wunder, wir helfen nur, so gut es eben geht.“ Das aber gelingt ihnen bravourös, sofern dies mit Schichtdienst oder Selbstständigkeit und Familie in Einklang zu bringen ist. Nicht immer leicht! Man könne auch meinen, beide Männer bewegten sich am Rande der Erschöpfung. Dem ist nicht so, da sie aus der Hilfeleistung und dafür erwiderten Dankbarkeit ein hohes Maß an Kraft zurückgewinnen.

Es finden sich Wege, die es ermöglichen, dass Thomas Große seit der Katastrophe nahezu jedes Wochenende in Bad Neuenahr und Umgebung hilft. Auch Michael Lauer nimmt, so oft es die Zeit zulässt, die Strecke von 220 Kilometer auf sich, um vor Ort Gutes zu tun. Ohne die Unterstützung der Familien im Hintergrund nahezu unvorstellbar. Hinzu kommt, dass die Männer den Weg ins Ahrtal nie ohne weitere Hilfslieferungen antreten. Und wenn es „nur“ um Schokoladennikoläuse, frisches Gemüse oder Schulprodukte geht.

Was für uns alltägliche und so selbstverständlich erhältliche Dinge darstellen, wurde in den betroffenen Gebieten zu unerreichbaren Produkten. Die Bandbreite der bereits gelieferten Sachspenden ist enorm: Zu Beginn ging es eher um Werkzeug, Schaufeln, Schubkarren. Man könnte jedoch behaupten, dass sich der Bedarf der benötigten Alltagsdinge wöchentlich ändert. Je nach Fortschritt der Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten.

In der einen Woche mögen noch Werkzeuge gefragt gewesen sein, in der nächstens Woche wuchs die Sehnsucht nach frischen Lebensmitteln, das heißt Obst und Gemüse, aber auch Fleisch heran. Kurzerhand mobilisieren die beiden Männer Dank der heutigen Technik ihren Freundes- und Bekanntenkreis, um schnellstmöglich und unbürokratisch genau das zu organisieren, was vor Ort dringend benötigt wird. So kann auch jeder Spender sicher sein, dass deren Spende dort ankommt, wofür sie vorgesehen war. Und das auch sehr schnell.

Dauerunterkunft im Weingut

Kaum ein Wochenende verging bisher, dass Thomas Große nicht im Ahrtal verbracht hätte. Mittlerweile darf er sich über eine Dauerunterkunft im Weingut Sonnenberg in Bad Neuenahr freuen. Das Weingut blieb glücklicherweise weitgehend von der Katastrophe verschont, weshalb Marc Linden und seine Frau Michaela Wolff ihre Ferienwohnungen kurzerhand für Bedürftige zur Verfügung stellten und nun auch Thomas Große ein Zimmer für den Wochenendaufenthalt einrichten konnten.

Somit handelt es sich bei den Einsätzen nicht nur um eine reine Hilfsleistung, sondern es herrscht ein enger Anschluss an die dort lebenden Menschen. Zumal das Weingut Sonnenberg zu einer Art Leitstelle geworden ist. Die Familie ist an den Menschen vor Ort so nah dran wie kaum eine andere und weiß, wen welche Nöte plagen, was sie gerne an die beiden Helfer aus Reilingen herantragen, die sofort ihr Bestes tun, um Abhilfe zu schaffen.

Zudem ist das Weingut zwischenzeitlich zum eingetragenen Verein geworden, der dringend benötigte Spendengelder annimmt und auf schnellstem Wege an die Bedürftigen weiterleitet. Anders als bei den weitgefächerten Spendenaufrufen, die einer immensen Bürokratie unterliegen und bisher selten die Betroffenen erreicht hat.

Darüber hinaus ist der Familie trotz des weiterhin herrschenden Ausnahmezustands viel daran gelegen, den Menschen, insbesondere den Kindern, ein wenig Alltag zurückzubringen. Sei es durch einen organisierten St. Martinsumzug mitsamt einer Schokokuss-Aktion oder diversen Bastelaktionen für die Kinder – alles, was auf andere Gedanken und den Alltag wieder ein wenig zurückbringt, gleicht einem großen Geschenk.

Auf Grund dieses enormen Engagements sehen Thomas Große und Michael Lauer vielmehr in Michaela Wolff einen wahren Engel, die so rührend diese Aktionen vorbereitet und durchführt und damit gerade den Kindern ein Lachen ins Gesicht zaubert. Sie leistet einen enormen Beitrag vor Ort, um den Menschen die Situation erträglicher zu gestalten und wieder Zuversicht zu vermitteln.

Offenes Ohr für Sorgen und Nöte

Die beiden Männer wiederum bleiben bei der Meinung, keine Engel zu sein, auch wenn manch einer vor Ort das vielleicht anders sehen möge, denn was die beiden leisten, gleicht vielleicht keinem Wunder, selbstverständlich ist es aber keinesfalls und ein unvergleichlicher mitmenschlicher Beitrag ist es allemal. Religiöser Natur ist ihr Einsatz am Mitmenschen ebenso wenig. Möglicherweise spielt die religiöse Erziehung aus Kindertagen noch eine untergeordnete Rolle, die Motivation für den Einsatz der beiden Männer wird jedoch in erster Linie gespeist von dem Willen, die vom Schicksal so gebeutelten Menschen zu unterstützen mit dem, was gerade gebraucht wird. Manchmal ist es lediglich ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte, dann wieder können es Puppen oder Gesellschaftsspiele für die Kinder sein, um ihnen wenigstens ein Geschenk zum Weihnachtsfest bereiten zu können, wenn man dieses schon im Ausnahmezustand, oft noch ohne Strom, Wasser und vor allem Heizung oder notdürftig in anderen Behausungen verbringen muss. Da können bereits kleine Gesten zu einem wahren Wunder- oder Engelswerk werden.

„Es sind Parallelwelten“, erklärt Thomas Große sichtlich betroffen. „Wir haben hier alles, uns geht es gut und dennoch jammern wir oft über Nichtigkeiten.“ Dort sieht es aber ganz anders aus. Allein diese Tatsache ist bewundernswert, wie die Männer mit all diesen Eindrücken klarkommen. Gerade im Sommer stießen sie oft an ihre Grenzen, als sie vor Ort die vielen Schicksalsschläge erlebten. Doch auch jetzt noch ergeben sich stets neue Kontakte, bereichernd und gleichzeitig berührend, wenn man sieht, wie viele Menschen vor dem Nichts stehen, jedoch von Versicherungen und anderen Institutionen allein gelassen werden.

Ihr pausenloser Einsatz, der weiterhin aufrechterhalten werden soll, bringt wertvolle Freundschaften hervor, dennoch auch Betroffenheit aufgrund der noch herrschenden Bedürftigkeit vor Ort. Hilfe wird weiterhin benötigt. Leider ebbte diese allgemein gesehen in jüngster Vergangenheit stark ab, vermutlich durch das nahende Weihnachtsfest, aber auch aufgrund der wieder verschärften pandemischen Lage.

Es sind die Taten, die zählen

Auch wenn Thomas Große und Michael Lauer nicht im herkömmlichen Sinne als Engel tituliert werden möchten, so könnte man sie aber sicher trotzdem als engelhafte Wesen bezeichnen, denen ihre Mitmenschen am Herzen liegen und für die sie Großes leisten. Natürlich wären ihre Hilfsaktionen nicht möglich, gäbe es nicht die Unterstützung durch ihre Familien und Freunde. Ebenso spielen die Reilinger Vereinswelt sowie viele Gewerbetreibenden der nahen Region eine tragende Rolle, die durch Sach- und Geldspenden die Hilfsmaßnahmen erst ermöglichen.

Dennoch braucht es jemanden zur Umsetzung der vielschichtigen Hilfe, sei es das Überbringen der Hilfsgüter oder aber die Umsetzung von Aktionen wie beispielsweise einer Fleischaktion. Hierzu wurden 90 Kilogramm Fleisch an 50 Familien verteilt. Klingt zunächst profan, für die Menschen vor Ort war es ein Fest. Engel müssen ja nicht immer mit Flügeln und Heiligenschein daherkommen, allein die Taten sind es, die zählen.

Freie Autorin Christina Lourenco ist Freie Mitarbeiterin für das Gebiet Hockenheim und Umgebung, vorwiegend tätig im Bereich Kultur/ Event.

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