Schwetzingen / Region. Der Anfang dieses Artikels ist ungewohnt persönlich. Denn das Niederschreiben erwies sich als schwierig. Nicht technisch. Aber die Fakten zusammenzutragen, sie zu ordnen und einzuschätzen, erfüllte den Autor dieser Zeilen, Vater von zwei Mädchen, mit Sorge. Denn die Sache mit dem Artensterben ist verheerend. Bedeutung und Wahrnehmung verhalten sich noch immer umgekehrt proportional. In der öffentlichen Wahrnehmung fristet das Artensterben ein Mauerblümchendasein, aber die Wucht der Veränderung, die dieses Artensterben mit sich bringt, ist für das zivilisatorische Sein desaströs.
Katastrophe für den Menschen auf diesem Planeten
Klar könnte man hier Dramatisierung unterstellen. Doch die Wissenschaft spricht eine derart unmissverständliche und belastbare Sprache, die kaum einen anderen Schluss als den der Katastrophe für den Menschen auf diesem Planeten zulässt. Das Netz des Lebens reißt. Dabei ist das Artensterben nicht getrennt vom Klimawandel zu betrachten, die Sache ist kumulativ. Heißt, die beiden verschlimmern sich gegenseitig. In der Systemsprache würde man von einer positiven Rückkopplung sprechen, die die bisherigen Systemzustände völlig eskalieren lässt und gänzlich neue Bedingungen schafft. Bedingungen, die menschliches Leben, wie wir es heute kennen, unmöglich machen.
Denn ohne das Netz des Lebens kann auch der Mensch nicht existieren. Wenn die sauerstoffproduzierenden Bäume im Wald und Kieselalgen in den Ozeanen weiter unter Druck geraten, gerät irgendwann auch der sauerstoffbenötigende Mensch unter Druck. Zusammenhänge, so der englische Biologe und Insektenforscher Dave Goulson, die schon lange bekannt sind. Was fehlt, ist die angemessene Reaktion. Die soll jetzt bei der UN-Artenschutzkonferenz im Dezember im kanadischen Montreal nach monatelangen Verschiebungen endlich angegangen werden.
Platz für die Natur schaffen
Ursprünglich war die Konferenz für dieses Frühjahr in der chinesischen Stadt Kunming angesetzt. Bis 2030, so das Ziel für diese Zusammenkunft, sollen 30 Prozent der Fläche des Planeten zum Schutzgebiet erklärt werden. Ein Ziel, von dem man noch weit entfernt ist. Laut dem „Global Biodiversity Outlook“ von 2021 liegt der Anteil der geschützten Landfläche bei 15 Prozent und der Meere bei gerade einmal sieben Prozent. Dabei beschreiben die 30 Prozent für viele Biologen eine Untergrenze. Besser wäre eine Zahl nahe 50 Prozent. Der UN-Generalsekretär António Guterres erklärte hierzu unlängst: „Wir müssen Platz für die Natur schaffen, um unseren Platz in der Welt zu erhalten.“ Schon jetzt sind die Auswirkungen massiv.
Goulson legt in seinem neuen Buch „Stumme Erde“ dar, dass die Biomasse der Insekten seit 1970 um 75 Prozent zurückgegangen ist. Vor dem Hintergrund, dass fast 90 Prozent aller Pflanzenarten auf Bestäubung angewiesen sind, wird eine Entwicklung absehbar, die das Wohl der Menschheit massiv beeinträchtigen könnte. Aber der Rückzug der Insekten hat, so argumentiert Goulson in seinem Buch weiter, noch weit mehr Folgen. Insekten bestäuben ja nicht nur, sondern zersetzen biologisches Material, halten den Boden gesund, Schädlinge in Schach und stehen am Anfang fast jeder Nahrungskette. Die Welt, so Goulson, würde ohne Insekten ins Stocken geraten.
Erwärmung zwingt die Arten weltweit auf die Wanderschaft
Und trotzdem werde weiter agiert, als gäbe es das Artensterben nicht. Fläche wird weiter zersiedelt und monotone Intensivlandwirtschaft inklusive Pestizideinsatz bleibt die Regel. Fauna und Flora hätten dadurch immer weniger Rückzugs- und vor allem keine Ausweichräume. Letzteres ist vor dem Hintergrund des Klimawandels bedeutsam. Denn die Erwärmung zwingt die Arten weltweit auf die Wanderschaft. Überall auf der Welt registrieren die Biologen, dass die Arten entweder in die Höhe oder in Richtung der Pole streben. Landbewohner, so Camille Parmesan vom Nationalen Forschungszentrum Toulouse, legen aktuell im Schnitt auf zehn Jahre gerechnet 17 Kilometer und Meeresbewohner 72 Kilometer zurück. „Es gibt keine Gegend auf der Erde, wo das nicht passiert, und keine Gruppe von Organismen, die nicht betroffen ist.“ In vielen Regionen seien den Tieren aber die Wege versperrt. Siedlungen, Landwirtschaft, Industrie und Straßen seien immer öfter undurchlässige Barrieren, die auch den mobilen Arten ein Ausweichen verwehren.
Die UN-Artenschutzkonferenz im Winter ist in den Augen vieler Biologen dann auch die letzte Chance auf eine Umkehr. Und diese Umkehr bedeutet nichts anderes, als dass sich der Mensch zurücknehmen muss. Bisher ging Menschsein auf dem Planeten für viele jedoch fast immer mit mehr einher. Seit einigen Jahren bringen die Menschen und ihre Nutztiere mehr Gewicht auf die Waage als alle anderen Landwirbeltiere auf diesem Planeten zusammen. Allein in Deutschland werden jedes Jahr 650 Millionen Hühner, 53 Millionen Schweine und über drei Millionen Rinder geschlachtet. Der Futtermittelbedarf ist dabei gewaltig. Weit mehr als die Hälfte des Getreides, so der Deutsche Verband Tiernahrung, wird hierzulande an Nutztiere verfüttert. Heißt im Umkehrschluss, sich beschränken und weniger Fleisch essen, würde den landwirtschaftlichen Druck auf die Fläche verringern, mehr Platz für andere Tiere ermöglichen, ohne die Ernährungssicherheit zu gefährden.
Rote Liste der bedrohten Arten wird immer länger
Leider ist Selbstbeschränkung keine Eigenschaft, die dem Menschen leichtfällt. Im Gegenteil, drei Viertel der Landfläche und zwei Drittel der Ozeane sind vom Menschen gestaltet oder beeinflusst. Die Fläche der Städte hat sich seit 1992 verdoppelt und wächst weiter. Die Verschmutzung durch Plastik hat sich im gleichen Zeitraum verzehnfacht. Es gibt einschließlich Mensch keine Säugetiere mehr ohne Mikroplastik im Körper. Immer noch werden in Deutschland Tag für Tag knapp 60 Hektar Land als Bauland ausgewiesen. Das entspricht knapp 80 Fußballfeldern. Mit 632 Kilo Müll pro Einwohner und Jahr nimmt Deutschland im EU-Länderranking (Durchschnitt: 505 Kilo) einen Spitzenplatz ein.
Und auch die Rote Liste der bedrohten Arten wird immer länger. 2021 verzeichnete das Register der Weltnaturschutzunion (ICUN) 37 500 bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Mehr als jemals zuvor. Und der „Earth Overshoot Day“, der Tag, ab dem die menschliche Nachfrage nach Ressourcen die Kapazitäten der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt, wandert im Kalender immer weiter nach vorne. Im vergangenen Jahr war es der 29. Juli. Das „Global Footprint Network“, das diesen Tag berechnet, geht in diesem Jahr von einem noch früheren Datum aus. Wenn der deutsche Konsum und Ressourcenverbrauch der Maßstab für die Berechnung wären, fände sich der Erdüberlastungstag übrigens schon Anfang Mai. Nach etwas mehr als fünf Monaten machen die Deutschen bei der Natur also Schulden und leben auf Kosten anderer.
Ampeln für den Zustand des Planeten stehen auf Orange
Das Corona-Jahr 2020 war das einzige Mal in der Geschichte dieses Tages, dass er im Kalender nach hinten wanderte. Es ist nicht übertrieben, was der Wirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich bei Lanz sagte: „Wir ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der Verwüstung über die Erde.“ Es ist schon fast eine nervende Banalität. Aber der Satz des Naturforschers Alexander Humboldt (1769 bis 1859), alles hängt mit allem zusammen, sagt alles. Immer mehr Arten bedroht, die CO₂-Emissionen und die Temperaturen steigen, die Landschaft wird zunehmend verbaut, kaum noch Naturräume ohne Verschmutzung und gnadenlose Ressourcenplünderung.
Die Ampeln für den Zustand des Planeten, unsere Lebensgrundlage, stehen schon länger auf Orange. In Teilen leuchten sie bereits Rot. Das grundlegende Problem, die Natur ist zirkulär aufgebaut. Deshalb hängt auch alles mit allem zusammen. Die Menschheit hat sich aber für einen linearen Entwicklungspfad in Richtung immer mehr entschieden. Und genau das beschreibt das problematische Mensch-Natur-Verhältnis ziemlich genau. Denn ein linearer Entwicklungspfad in einem zirkulären System muss zum Kollaps führen. Krebs ist da ein Beispiel für eine lineare Entwicklung in einem zirkulären System. Wenn das lineare Zellwachstum nicht gestoppt werden kann, ist der Tod des zirkulären Systems (in diesem Fall des Körpers) unausweichlich.
Der Klimaforscher Joachim Schellnhuber sagte schon vor einigen Jahren: „Wir sind gerade dabei, unsere Kinder in einen globalen Schulbus zu setzen, von dem wir wissen, dass er mit 98- bis 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit verunglückt.“ Und jetzt: Der Putin’- sche Angriffskrieg, lässt die Energie- und Konsumwende in Bezug auf gesellschaftliche Resilienz noch zentraler erscheinen. Alle Kräfte fokussieren. Von einem verpflichtenden ökologisch-sozialen Jahr und einem massiven Weg vom immer mehr über Steuererhöhungen für Vermögen im Sinne des Buches „How to pay fort he war“ des britischen Ökonoms John Maynard Keynes (wie der deutsche Lastenausgleich 1952) bis zu einer gigantischen Kraftanstrengung für massive Energieeinsparungen sowie eine nachhaltige und vernetzte europäische/ nordafrikanische Energieversorgung. Kaum etwas darf nicht gedacht werden.
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