Schwetzingen. Testzentren schließen, Impfstandorte ebenfalls, an diesem Freitag wird die Corona-Hotline des Rhein-Neckar-Kreises nach drei Jahren abgeschaltet. Und doch ist das Virus weiter unter uns. Wir sprechen mit der stellvertretenden Leiterin des Gesundheitsamtes im Rhein-Neckar-Kreis, Dr. Anne Kühn, die im Kampf gegen Corona an der vordersten Front stand, im Zuge der Beendigung der Corona-Impfaktion unter der Regie des Landratsamtes.
Frau Dr. Kühn, wie haben Sie die Anfänge von Corona im Winter und Frühjahr 2020 erlebt? Ab wann haben Sie begonnen, sich Sorgen zu machen?
Dr. Anne Kühn: Die Anfänge der Corona-Pandemie in unserem Landkreis habe ich vor allem als eine Zeit erlebt, in der man sich sehr schnell auf eine sich verändernde Lage einstellen musste. Sorgen im Sinne von: „Daraus kann eine größere Sache werden “ haben wir uns aber bereits vor den ersten Fällen im Rhein-Neckar-Kreis (RNK) und in Heidelberg gemacht. Wir haben schon im Januar gemeinsam mit den Kliniken und den niedergelassenen Ärzten den Austausch gesucht und intern besprochen, wie wir auf unterschiedliche Szenarien reagieren können, damit alle, die im Ernstfall beteiligt wären, sich vorbereiten können. Einen Einblick, wie schlimm es hätte werden können, haben wir dann ja aus den benachbarten Ländern bekommen, Italien und später auch Frankreich, als dort die Beatmungsgeräte gefehlt haben und es zu Notverlegungen auch zu uns in die Kliniken kam. Ich persönlich war in Sorge, als Corona hier angekommen war. Das waren allerdings private Sorgen, um meine Kinder und meine Eltern oder um meinen Mann, der auf der Intensivstation direkt mit den Erkrankten gearbeitet hat.
Hätten Sie sich nach den Bildern von menschenleeren Städten aus China vorstellen können, dass es diese Bilder auch bald aus Deutschland gibt?
Kühn: Nein. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Bilder hier in Deutschland in dieser Form auch nicht gesehen. In der ersten Welle, als die Beschränkungen am schärfsten waren, war es auf den Straßen natürlich deutlich ruhiger als ansonsten im gleichen Zeitraum. Aber die Möglichkeiten, die gegeben waren, Spaziergänge zum Beispiel, die wurden nach meiner Wahrnehmung rege genutzt. Das hat das Bild bei uns von den Bildern aus China für mich deutlich unterschieden.
Wie bewerten Sie die restriktiven Maßnahmen in der Rückschau?
Kühn: Ich denke, dass die Maßnahmen in der jeweiligen Situation, getroffen auf dem Boden der damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse, gut waren. Und wenn ich vergleiche, wie wir im Gegensatz zu anderen Ländern durch die erste Welle gekommen sind, bin ich davon überzeugt, dass wir durch die damals getroffenen Maßnahmen sehr viel Leid verhindern konnten.
Gibt es Maßnahmen, die Sie mit dem Wissen von heute als übertrieben bewerten? Und welche waren wichtig?
Kühn: Wichtig war und ist auch heute noch das Tragen von Masken in Innenräumen. Aus dem heutigen Blickwinkel heraus nicht unbedingt erforderlich war sicherlich das Bedürfnis, alles zu desinfizieren. Die Kontaktbeschränkungen haben zu den Zeitpunkten, zu denen sie als Maßnahmen eingesetzt wurden, immer wieder gezeigt, dass sie in der Lage sind, die Dynamik des Infektionsgeschehens zu bremsen, bevor es zur kritischen Überlastung der Gesundheitseinrichtungen kam. Dass sie heute, wo wir durch andere Virusvarianten und die Möglichkeit der Impfung andere Voraussetzungen haben, weniger Bedeutung haben, mindert nicht ihre Wichtigkeit zu Beginn der Pandemie.
Wie erlebten Sie die Diskussion in der Gesellschaft und Ihrem privaten Umfeld?
Kühn: In meinem privaten Umfeld war die Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen deutlich weniger ausgeprägt, als es durch die Medien manchmal den Anschein hatte. Es gab sicherlich kritische Stimmen zum Zeitpunkt der Einführung, also zu früh oder zu spät, und zur Dauer oder Intensität der Maßnahmen, aber die grundsätzliche Notwendigkeit wurde nicht in Frage gestellt und solidarisch mitgetragen. Aber auch außerhalb des privaten Rahmens habe ich die Auseinandersetzung zum überwiegenden Teil als konstruktiv empfunden, das manchmal sehr negative Bild, dass ich in den Medien wahrgenommen habe, konnte ich in meinem täglichen Erleben nicht bestätigen. Hier muss man natürlich mitbedenken, dass in den Medien die Stimmungsvielfalt abgebildet werden sollte und so Einzelstimmen mehr in den Vordergrund treten, als sie es im Alltag tun.
Wann spürten Sie, dass da in Sachen Akzeptanz der Eindämmungsmaßnahmen in Teilen der Gesellschaft etwas kippte?
Kühn: Ich hatte nie das Gefühl, dass etwas gekippt ist. Ich hatte das Gefühl, dass sich manche Personen nicht mehr so gut mitgenommen fühlten, wie es noch zu Beginn der Pandemie der Fall war, und dass im Verhältnis zur tatsächlich wahrgenommenen Stimmung den Kritikern überproportional Raum eingeräumt wurde, sich zu äußern. Das hat den Eindruck erweckt, dass etwas kippt, obwohl die Akzeptanz nach meinem Eindruck eigentlich gegeben war.
Wie umgeht man das Problem, dass Erfolg Legitimität kosten kann?
Kühn: Dieses Paradoxon ist im Arztberuf immer dabei. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie Ihren Lebenswandel umstellen sollten, weil Sie ansonsten schwer krank werden, und Sie stellen ihn um und bleiben gesund, wird immer die Frage bleiben, ob ich wirklich recht behalten hätte. So ist es auch jetzt: Wir haben Maßnahmen umgesetzt, um ein katastrophales Szenario zu vermeiden, und dieses katastrophale Szenario ist nicht eingetreten. Ich denke, das liegt an den Maßnahmen, und der Blick in Länder, die weniger oder andere Maßnahmen umgesetzt haben, bestärkt mich darin. Aber einen harten Beweis habe ich nicht.
Hat die Aufklärung, hat die Wissenschaft in Ihren Augen Schaden genommen?
Kühn: Ganz im Gegenteil. Ich denke, vielen Menschen ist bewusst geworden, was Wissenschaft eigentlich bedeutet: Nicht, von Anfang an eine definierte Antwort zu haben, sondern eben konstant und unter enormem Zeitdruck Erkenntnisse zu sammeln und das Bild, das man initial hatte, an diese Erkenntnisse anzupassen. Dass damit auch die Maßnahmen angepasst werden müssen, muss natürlich gut kommuniziert werden, aber die meisten Leute haben sehr gut nachvollziehen können, dass das etwas Gutes ist. Und ganz nebenbei, wir haben ja enorme Fortschritte gemacht, die uns langfristig in anderen Bereichen zugutekommen werden. Allein die Entwicklung eines mRNA-Impfstoffs hat uns im Bereich anderer Erkrankungen enorme Möglichkeiten eröffnet, von denen Patienten überall auf der Welt in den nächsten Jahren profitieren werden.
Wie sehr ist Ihr Bereich für kommende Pandemien nun sensibilisiert, gibt es Strukturen (Personalstärke, eingeübte Prozesse und so weiter), die erhalten bleiben?
Kühn: Ich denke, dass wir in der Pandemie vieles an Strukturen schaffen konnten, die uns erhalten bleiben werden, weil sie ihren Nutzen vielfach bewiesen haben, sowohl im Gesundheitsamt als auch im Landratsamt und im Austausch mit anderen Akteuren. Die Kommunikation im Krisenfall, die enge Abstimmung mit anderen Behörden, die technischen Möglichkeiten, all das ist für kommende Krisen – ich möchte das gar nicht auf Pandemien beschränken –enorm hilfreich und wird erhalten bleiben. Auch im Bereich Personal hat es für uns als Gesundheitsamt bereits dauerhafte Aufstockung gegeben, die uns damit auch bei weiteren Ereignissen als Ressource zur Verfügung steht.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko für Pandemien in Zukunft ein: Steigt das Risiko mit unserm Verhalten (Reisen, Naturzerstörung)?
Kühn: Das Risiko für Pandemien war schon immer da und ist sicherlich durch die zunehmende Mobilität der Bevölkerung und die Veränderungen in unserem Verhalten weiter gestiegen. Ich möchte also nicht ausschließen, dass ich in meiner Zeit noch eine weitere Pandemie erlebe. Das hängt aber von vielen Faktoren ab, bis Ende 2019 war für uns das Wahrscheinlichste ja eine Influenzapandemie, Corona als Option war nicht sehr präsent. Sicherlich sind wir auf das nächste Ereignis aber besser vorbereitet als auf dieses, denn wir haben viel Praxiserfahrung sammeln können.
Sind die Aufhebungen der meisten Eindämmungsmaßnahmen heute richtig?
Kühn: Es ist richtig, dass wir die Maßnahmen an die aktuellen Gegebenheiten anpassen und stetig prüfen, ob sie verhältnismäßig sind. Und wenn die Anzahl der schweren Verläufe mit Impfschutz und Änderung der Virusvariante abnimmt, ist es absolut gerechtfertigt, die Maßnahmen zu lockern oder gänzlich wieder aufzuheben. Das Ziel der auch strengen Maßnahmen war ja von Anfang an, die Zeit zu überbrücken, bis mit der Impfung ein Schutz vor schweren Verläufen geboten werden kann und vor allem in den vulnerablen Gruppen, in denen dieser Impfschutz auch verteilt ist. Dieses Ziel haben wir erreicht. Dass ich mir persönlich wünschen würde, mehr Menschen würden freiwillig zum Beispiel in Innenräumen Maske tragen, ist davon unbenommen.
Oder sollten wir nicht doch noch vorsichtig sein und vulnerable Gruppen stärker schützen?
Kühn: Selbstverständlich sollten wir weiter vorsichtig sein und uns und andere schützen. Es ist ja unmöglich, zu sehen, wer zu einer vulnerablen Gruppe gehört und wer nicht, eine Immunschwäche sehen sie dem Einzelnen ja nicht an. Ich finde, dass eine Solidargemeinschaft sich auch dadurch solidarisch zeigt, dass sie für andere vorsichtig ist, auch wenn man selbst kein erhöhtes Risiko hat.
Sind Desinfektionsmittelspender im öffentlichen Raum noch notwendig?
Kühn: Händedesinfektion ist ganz unabhängig von Corona eine gute Idee, um das Risiko zu reduzieren, sich mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen zu infizieren. Ich denke an andere Atemwegserkrankungen, aber auch an Durchfallerreger und so etwas. Ob das über öffentliche Spender notwendig ist, ist eine andere Frage, aber eine schlechte Idee ist es sicherlich nicht.
Wie gefährlich ist das Virus heute noch?
Kühn: Das Virus ist auch heute noch sehr ansteckend und macht viele Leute auch richtig krank, es hat sich aber insofern gewandelt, dass wir im Regelfall nicht mehr mit schwersten Verläufen mit Intensivpflichtigkeit rechnen müssen. Insofern ist das Virus also im Augenblick deutlich weniger gefährlich, als es noch zu Anfang war. Das liegt aber nicht nur am Virus selbst, sondern auch am Impfschutz in der Bevölkerung, es konnte inzwischen wiederholt gezeigt werden, dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt. Ich möchte mir nicht vorstellen, in welcher Situation wir heute wären, wenn wir keine Impfung hätten.
Wie bewerten Sie das Problem, dass Masken zwar Schutz bieten, mittel- bis langfristig aber das Immunsystem schwächen und vor allem Kindern Probleme bereiten kann?
Kühn: Masken schwächen nicht das Immunsystem. Masken, richtig getragen, verhindern die Aufnahme von respiratorischen Erregern in den Körper und damit die Auseinandersetzung des Immunsystems mit einem Erreger. Das ist aber keine Schwächung des Immunsystems, vor allem dann nicht, wenn man ihm die Auseinandersetzung mit dem Erreger dann in einer kontrollierten Art und Weise, also über eine Impfung ermöglicht. Ganz im Gegensatz zu bestimmten Viren, die nach Infektion tatsächlich dafür sorgen können, dass der Körper über einen gewissen Zeitraum anfälliger gegenüber anderen Erregern bleibt. Auch kann ich die Aussage nicht nachvollziehen, dass Masken Kindern Probleme bereiten sollen. Kinder haben in dieser Pandemie in der Gesamtschau der Maßnahmen sicherlich viele Einschränkungen hinnehmen müssen und haben in vielen Bereichen einen höheren Förderbedarf als wir es vor der Pandemie gesehen haben. Das ist aber sicherlich nicht und schon gar nicht singulär auf Masken zurückzuführen, sondern hat vielfältige Ursachen – das Erleben einer Pandemie mit den damit verbundenen Ängsten hat auch bei Erwachsenen Spuren hinterlassen, es wäre ungewöhnlich, wäre es an den Kindern spurlos vorbeigegangen. Meine beiden Kinder, sie sind sechs und acht Jahre alt, tragen immer noch freiwillig Masken und zwar ganz ohne Probleme.
Sind Impfungen weiterhin nötig und wer übernimmt die Aufgabe nun?
Kühn: Natürlich sind Impfungen weiterhin nötig, sowohl gegen Corona als auch gegen Influenza und viele andere Erkrankungen. Und genau wie die Impfung gegen Influenza oder gegen Tetanus gehen auch die Corona-Impfungen jetzt ins Regelsystem, also vor allem zu den Hausärzten, die neben der eigentlichen Impfung auch durch ihre oft langjährige Kenntnis des Patienten und seiner Geschichte eine individuelle und risikoangepasste Impfberatung bieten können.
Ich wüsste auch gerne, wie viele Impfungen unter der Regie des Landratsamtes vonstatten gingen.
Kühn: Zwischen dem 27. Dezember 2020 und dem 13. Dezember 2022 wurden in unseren Impfzentren und mit unseren MITs insgesamt 661 694 Impfdosen verabreicht.
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