Ukraine-Krieg

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Familie findet Zuflucht in Schwetzingen

Vor zehn Monaten flohen Artem Posypaiko, seine Frau Daria Sherstiuk, die beiden Kinder, Oma und Uroma aus der Ukraine. Sie fanden Hilfe im 2000 Kilometer entfernten Schwetzingen.

Von 
Stefan Kern
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Artem und Daria mit ihren Kindern. Das Foto entstand vor dem Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine. © Familie

Schwetzingen. Leben ist widersprüchlich. Egal, wie es verläuft, die Kombination aus Zufällen und Verstrickungen führt mehr zu diversen Verknotungen, denn klaren Lebenslinien. Das gilt mehr oder weniger immer, doch es gibt Fälle, da kommt dieser Gedanke mit voller Wucht zum Tragen. Wie bei Artem Posypaiko und seiner Frau Daria Sherstiuk, die mit ihren beiden Kindern, drei und fünf Jahre alt, der Oma und der Uroma vor zehn Monaten aus Charkiw geflohen sind und heute im 2000 Kilometer entfernten Schwetzingen leben.

Vor einem Krieg in der Ukraine fliehen zu müssen, hatten die beiden wahrlich nicht erwartet. Lange konnten sie sich nicht vorstellen, dass Putin seiner Armee den Angriff befiehlt. Aber er tat es und von einem auf den anderen Moment sei alles anders gewesen, erzählen sie dieser Redaktion. Alles stand infrage.

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Zugleich, so die beiden, schreibe das Leben auch wieder Antworten. Und diese laute, dass sie in Schwetzingen ein neues Zuhause auf Zeit gefunden haben. Und damit meinen sie nicht nur vier Wände und ein Dach, sondern Freunde, neue Herausforderungen und – ja – auch Zuversicht.

Familie flüchtet vor Ukraine-Krieg nach Schwetzingen: Halt im Turnverein

Vor genau einem Jahr begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) beziffert die Zahl der getöteten Zivilisten bis dato auf über 8000, darunter fast 500 Kinder. Das OHCHR selbst betont hierzu, dass die Zahl nur einen kleinen Teil der tatsächlich getöteten Menschen abbilde.

Bei den 8000 Toten handle es sich lediglich um zivile Opfer, die von der UN verifiziert werden konnten. Diverse Daten deuten auf Opferzahlen hin, die den vierstelligen Bereich weit hinter sich lassen und mehr als deutlich in den sechsstelligen Bereich gehen.

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Das Leid ist riesig und doch sagen Posypaiko und Sherstiuk, dass sie hier auch glücklich seien. Es ist nicht einfach. Vielleicht trifft es die Formel, glücklich mit schwerem Herzen. Denn so schwer das ukrainische Herz auch sei, das Schwetzinger Herz sei leicht. Und das habe viel mit der deutschen Gastfamilie und dem TV Schwetzingen 1864 zu tun.

Familie flüchtet vor Ukraine-Krieg nach Schwetzingen: Turnverein als Bindeglied

Der Verein sei ein geradezu ideales Scharnier zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen. In Charkiw war der Universitätsangestellte Posypaiko ein außerordentlich guter Volleyballspieler. Und genau das kommt ihm hier zugute. Ist er heute doch Übungsleiter im Bereich Volleyball. Und der TV-Vorsitzende Athi Sanaikone ist sichtlich froh über das sportliche Know-how aus der Ukraine. Der Mann, aber auch seine Frau seien im Verein sehr engagiert und stellten eine große Bereicherung dar. Das gelte auch für die anderen Neumitglieder aus der Ukraine. Bis dato zählt der Verein in dieser Kategorie rund 80 neue Mitglieder. Und zwar vom Kind bis zum Senior. Ob sie alle hierblieben, sei natürlich nicht klar. Aber Sanaikone sieht den Verein klar in der Pflicht, für die Menschen jetzt da zu sein und zu helfen. Wobei es sich hier um keine Einbahnstraße handle. Denn am Ende profitieren allen Seiten.

Eine Sicht, die das Ankommen enorm erleichtert. Posypaiko und Sherstiuk sind da beinah zu perfekt. Im April letzten Jahres kamen sie in Deutschland an. In Schwetzingen fanden sie Unterschlupf bei einer deutschen Familie. Seit Juni lernen sie Deutsch, sprechen mittlerweile erstaunlich gut, Ende 2022 wurden sie Mitglieder im TV Schwetzingen und hier ist er mittlerweile Übungsleiter. Es ist, so auch der Integrationsverantwortliche im Verein, Jens Rückert, fast zu sehr Bilderbuch. Wobei dieses Bild nur zeige, wie schief der Blick sei. Denn die Erfahrungen des Vereins gehen eigentlich fast alle in diese Richtung.

Artem Posypaiko, Daria Sherstiuk und TV-Vorsitzender Athi Sananikone auf dem Schwetzinger Fasnachtszug. © Stefan Kern

Familie flüchtet vor Ukraine-Krieg nach Schwetzingen: Russische Familie hilft

Für die beiden hätte es unter den gegebenen Umständen jedenfalls besser kaum laufen können. Vielleicht ist es einer der Gründe, warum die Herzen der beiden nicht voller Trauer und Hass zu sein scheinen. In ihrer Welt ist der Mensch oft gut. Das gilt für sie ohne Abstriche auch für Russen. Seine Mutter sage immer, „es gibt immer solche und solche, und zwar überall“. Beim Ankommen in Schwetzingen bekamen sie jedenfalls auch Hilfe von einer russischen Familie. Niemals seien alle durchweg schlecht. Die Guten würde man leider nur meist nicht sehen und hören, wenn die Wütenden und die, die voller Hass sind, rumkrakelten.

Was die Zukunft für sie bereithält, ist für das Paar noch nicht klar zu sehen. Sicher, irgendwann geht es wieder nach Hause. „Heimat ist Heimat.“ Seine Tochter fragt immer, „wann fahren wir wieder nach Hause.“ Seine Antwort: „Hoffentlich bald“. Doch wie lange dieses Bald noch geht, weiß er nicht. Der Krieg tobt und in ihrer Heimat ist so viel kaputt, dass sie sich im Moment eine Rückkehr mit ihren Kindern kaum vorstellen können. Ihr Haus in Charkiw ist zerstört, Kindergärten und Schulen gibt es nicht mehr. Also erst einmal hier weiterleben und weitere Antworten auf das Leben finden, alles andere wird sich zeigen.

Familie flüchtet vor Ukraine-Krieg nach Schwetzingen: Spenden für die Heimat

Und zu diesem Hier-Weiterleben gehörte am vergangenen Dienstag auch die Teilnahme am Kurpfälzer Fasnachtsumzug. Für sie eine Premiere, gibt es in der Ukraine doch keine Fasnachtskultur („Ein buntes und fröhliches Fest“). Noch einmal auf ihre Gefühlslage abgesprochen, reden sie von Spannung, die das Herz natürlich manchmal quetscht.

Aber egal, wie dunkel es sei, Menschen müssten immer wieder dafür sorgen, dass es Licht gebe und Platz für Fröhlichkeit. Das tun sie natürlich nicht nur für sich und ihre neuen Freunde in Schwetzingen, sondern auch, soweit es geht, für die Menschen in der Ukraine. Immer wieder veranstalten sie Spendenaktionen, sammeln Kleidung, Lebensmittel, Medikamente, Kerzen und vieles andere und schicken alles in ihre alte Heimat.

Und auch die Bilder von diesem Umzug schicken sie nach Hause. Das, so glauben sie, könne bei ihren Freunden in Charkiw vielleicht für den einen oder anderen Lächel-Moment sorgen. „Wichtig wäre es.“

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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