Projekt

„Schwetzinger Migrationsgeschichte(n)“ : Sie geben Einwanderung ein Gesicht

Heimat ist eine komplizierte Angelegenheit. Das wurde bei der Abschlussveranstaltung zum Projekt „Schwetzinger Migrationsgeschichte(n)“ im Palais Hirsch, mit der die Stadt türkischen Lebensläufe erstmals systemisch in den Blick nahm, überdeutlich.

Von 
Stefan Kern
Lesedauer: 
Sie erwecken das Projekt „Schwetzinger Migrationsgeschichte(n) zum Leben: Hüseyin Köksal (v. l.), Hüseyin Tekin, Yakup Divrak, Initiator Lars Maurer, Yasemin Inanli, Professor Dr. Cord Arendes und Burcak Tuncel-Tülek. © Lenhardt

Schwetzingen. Heimat ist eine komplizierte Angelegenheit. Das wurde bei der Abschlussveranstaltung zum Projekt „Schwetzinger Migrationsgeschichte(n)“ im Palais Hirsch, mit der die Stadt türkischen Lebensläufe erstmals systemisch in den Blick nahm, überdeutlich. Scheinbar klar definiert, kann der Begriff Heimat doch ziemlich schnell unscharf werden. Heimat ein Ort, die Familie, Freunde, das Wetter, vielleicht Rituale und Traditionen oder ein Mix aus allem. Bei aller Unschärfe: Sicher ist, dass Heimat ein Gefühl ist. Eine Art Standpunkt in und zur Welt. Und so hat die Schwetzinger Friseurin Yasemin Inanli Heimat mit am treffend-sten definiert: „Ich bin da Zuhause, wo mein Herz zu singen beginnt.“

Das Projekt, mit dem die Schicksale und Lebensläufe türkischer Einwanderer in den Blick genommen und in einem Buch festgehalten wurden, war in den Augen Lars Maurers, Leiter der städtischen Museums Karl-Wörn-Haus, mehr als überfällig. Um deutsche Geschichte zu verstehen, müsse auch die Geschichte der türkischen Einwanderer verstanden werden. Ein Tenor, den Oberbürgermeister Dr. René Pöltl teilte. In einem digitalen Grußwort ließ der OB keinen Zweifel daran, dass Schwetzinger Historie auch eine Migrationsgeschichte sei. Und diese Migrationsgeschichte rund um das Ankommen und Heimischwerden hätten das Land und die Stadt tiefgehend geprägt.

Das verformte Bild

In seiner Einführung erläuterte Maurer kurz die Entstehungsgeschichte, die mit der Idee von der Studentin Fabienne Bitz zu diesem Projekt vor zweieinhalb Jahren ihren Anfang nahm. Gefördert durch die Stadt und in Kooperation mit der Universität Heidelberg sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg machte man sich auf, den Schatz aus Lebensläufen zu heben. Und das mit dem Schatz war keine Übertreibung. Für Professor Dr. Cord Arendes, Historiker an der Universität Heidelberg, entstand mit dem Buch ein sehr wichtiges Puzzlestück zum Verständnis der Geschichte des Landes.

Ein Satz, dem angesichts dieses Buches gar nicht genug Bedeutung zugeschrieben werden kann. Ist Gesellschaft doch eine Konstruktion aus Millionen verschiedenen Lebensläufen. Nils Jochum, einer der Studenten, der an der Befragung für dieses Buch beteiligt war, erklärte gegenüber dieser Redaktion, dass das Wichtigste für ihn war, dass mit dem Projekt der Mensch hinter all den Gastarbeiter-Erzählungen zum Vorschein kam. Begriffe, mit denen Gruppen von Menschen beschrieben würden, seien ja immer eher grobe Zuschreibungen und würden den Blick auf den Einzelnen verstellen. „Man sieht den Menschen nicht mehr.“

Und genau das soll mit diesem Band „Schwetzinger Migrationsgeschichte(n)“ wieder gelingen. Den einzelnen Menschen sehen, seinen Weg erkennen und die Leistung, die dahinterstehe, anerkennen, ja wertschätzen. Allein das Ankommen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, einem Land, das vehement bestritt ein Einwanderungsland zu sein, den Status Gastarbeiter großschrieb und Zuwanderung und Zugewanderte eher ignorierte, darf als außerordentliche Leistung bewertet werden. Eigentlich, so Jochum und Professor Arendes, hätten wir damit schon längst beginnen sollen. Geschichte sei ja nie weg und sie wirke immer in die Gesellschaft hinein. Dieses Wirken nicht zu sehen, sei nicht nur eine Missachtung von Lebensleistungen, sie würde auch die Erzählung zum Bild, das sich Deutschland von sich selbst mache, verformen.

Mehr zum Thema

Projekt zur Migrationshistorie

Buch zur Erinnerung an Gastarbeiter in Schwetzingen

Veröffentlicht
Von
Andrea Baisch
Mehr erfahren
Versammlung

Verein heißt nun Freundeskreis Schwetzinger Museum

Veröffentlicht
Von
Gerhard Rieger
Mehr erfahren
Auf dem TV-Sportareal in Schwetzingen (mit Fotostrecke)

Vielfalt vereint zum Auftakt der Interkulturellen Woche

Veröffentlicht
Von
Volker Widdrat
Mehr erfahren

Begegnung schaffen

Um dieser Verformung für die Zukunft zu vermeiden, bot Maurer auch Luis Zeus von der Initiative „myBuddy“ ein Podium. Der Grundgedanke dieser 2018 von der ehemaligen Schwetzinger Stadträtin Weihua Wang gegründeten Begegnungsplattform ist ganz einfach: Kontakt zu einer Person einer fremden Gruppe verringere die Vorurteile gegenüber der ganzen Gruppe. Auf der Basis dieses Gedankens organisiert „myBuddy“ Begegnungen verschiedener Menschen in ganz Deutschland. Das neueste Projekt heißt „myBuddy zu Gast“. Dabei sollen, ausgehend von der Überzeugung, dass Feste wie Weihnachten, Ostern, das islamische Zuckerfest oder das jüdische Chanukka zentrale Aspekte der Kultur sind, Menschen gezielt zu diesen Festen zusammengebracht werden. „Über das Weihnachtsfest in einem Volkshochschulkurs zu hören, ist etwas ganz anders, als dieses Fest mitzufeiern“, verdeutlichte Zeus.

Eine Einschätzung, die bei der abschließenden Podiumsdiskussion geteilt wurde. Am allerwichtigsten, so Dr. Yakup Divrak, 1973 mit seiner Frau nach Deutschland gekommen, sei die Sprache. „Am Ende ist die Sprache der Schlüssel für den Zugang zu einer Gesellschaft.“ Dabei habe er es als Student mit dem Ankommen natürlich einfacher gehabt als Arbeiter, die zu Bildung in Deutschland kaum Zugang gehabt hätten. Das gilt auch für die Burcak Tuncel, beim Schulamt Mannheim zuständig für Integration. Trotzdem weiß sie von der Macht der Bilder und Klischees, die Menschen begrenzen. Und neben diesen Bildern macht es der Staat den Menschen aus anderen Ländern schwer, anzukommen. Wie könne es sein, so Zeus, dass eine erfahrene Krankenschwester in Deutschland bis zu acht Jahre braucht, bis sie anerkannt wird? Deutschland, so Arendes, habe sich mit Einwanderung schon immer schwergetan. Leider gebe es dafür keine vernünftige Erklärung.

Vielleicht sind es immer noch Auswirkungen dieser Lebenslüge von Nichteinwanderungsland Deutschland. Am Ende, so der Professor, schade uns das allen schon lange. „Es gib viele Gründe, endlich ein modernes Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen.“ Ein Grund lieferte einer der Protagonisten eines Kurzfilms über das Buch. „Auf die Frage, ob es irgendwann wieder zurückgehe, antworte ich stets: zurück wohin?“

Das rund 200 Seiten starke Buch „Schwetzinger Migrationsgeschichte(n)“ ist für 10 Euro im Handel erhältlich.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

Copyright © 2025 Schwetzinger Zeitung