Schwetzingen. „Manchmal fühle ich mich wie im Zoo“, sagt Babysitterin Rosalie zu den vielen Blicken, die Mats treffen. Gerade hat eine Frau nur wenige Meter vor dem Kinderrollstuhl Halt gemacht. Sie ist einfach stehen geblieben und hat gestarrt. Nach einigen Sekunden ist sie erschrocken, als sie merkte, dass Rosalie zurückstarrt. Wortlos ist sie an Mats vorbeigestapft.
Anja, die Mama von Mats, hatte angekündigt, dass das so sei. „Es braucht ein starkes Selbstbewusstsein, um die abwertenden Blicke auszuhalten.“ Zwar seien Passanten auf Nachfrage oft hilfsbereit, „von sich aus hilft aber niemand.“ Mit einem gekonnten Griff hat sie den siebenjährigen Jungen in den Familienvan gehoben und ohne den Blick von ihrem Sohn abzuwenden gesagt: „Das werdet ihr aber auch selbst merken.“ Um die Innenstadt von Schwetzingen auf Barrierefreiheit zu überprüfen, darf ich Mats bei einem Ausflug dahin begleiten. Betreut wird er dabei von seiner Babysitterin. Mama Anja bleibt bei seinen beiden kleinen Schwestern in Plankstadt.
Barrierefreiheit in Schwetzingen: Das ist Mats
Wenn Mats Musik hört, dann ist er glücklich. Und auch wenn er schon sieben Jahre alt ist, hört Mats noch immer die gleichen Lieder wie als Kleinkind. Er liebt es draußen zu sein, muss dann aber durchgehend betreut werden, weil Mats nur wenig sieht und hört. Deswegen sitzt er in einem Rollstuhl, dabei kann er zuhause eigentlich laufen. Und wenn er dann in die andere Richtung als seine Mama möchte, dreht Mats einfach mit seinen kleinen Händen am Reifen, ohne Angst zu haben, sich zu verletzen.
Er kann nicht reden, lesen oder schreiben; und doch halten ihn viele Ärzte für ein Wunderkind – der Siebenjährige ist nämlich schon jetzt viel weiter, als ihm je ein Doktor zugetraut hatte. Mats hat etwas ganz Besonderes an sich: die „Fäden“ seines Chromosoms sind anders als bei anderen Kindern nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verbunden, was man auch als Ringchromosom 18 bezeichnet. Deswegen hat Mats den sogenannten Pflegegrad fünf.
„Selbst wenn der Eingang ebenerdig ist, sind dann oft die Gänge so zugestellt, dass man einen Rollstuhl gar nicht drehen kann“, erklärt Mama Anja aus Plankstadt vor der Abfahrt. Mit dem neuen Barrierefreiheitsgesetz, das am Samstag, 28. Juni, in Kraft tritt, werden Unternehmer nun auch im digitalen Raum dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. Und das, obwohl die Barrierefreiheit noch nicht einmal im Analogen vollständig erreicht wurde, wie Anja findet: „Die Situation in Schwetzingen ist nach wie vor weniger gut als gut. Ich bin gespannt, was Rosalie nach der Stadtbegehung zu berichten hat.“
Behindertenparkplatz in Schwetzingen am Bahnhof
Einen Behindertenparkplatz am Bahnhof in Schwetzingen zu finden, ist kein Problem – Rosalie biegt direkt in die erste Parkbucht ein, die sie sieht. Vor der alten Post ist genug Platz, um Rollstuhl und Mats aus dem Autobus zu hieven. „Es tut mir wirklich leid, aber ich kann nichts dafür“, sagt Rosalie nur wenige Meter weiter zum quengelnden Mats, der bei jedem Kopfstein unfreiwillig nicken muss. „Auch das fällt einem erst auf, wenn man es erlebt: In Schwetzingen sind fast an jeder Straßenecke Kopfsteinpflaster verlegt“, meint die Psychologiestudentin. Und tatsächlich: Vor Fußgängerampeln, vor der Fußgängerzone, zwischen Fußgängerzone und den Kleinen Planken – überall wechselt der Bodenbelag von angenehmen, ebenerdigen Quadern zu kleinteiligem Kopfsteinpflaster.
Das erste Geschäft, das nicht barrierefrei zugänglich ist, lässt nicht lange auf sich warten: Reformhaus Escher. „Wenn wir einen Rollstuhlfahrer sehen, dann bedienen wir ihn gerne direkt vor der Tür. Und wenn es ein schmaler Rollstuhl ist, helfen wir, ihn ins Geschäft zu heben“, erklärt Filialleiterin Marita Oertel auf Nachfrage. Rosalie ist sichtlich überrascht: „Bei Apotheken und Reformhäusern ist die Frequenz Gehbehinderter so hoch, da würde ich schon eine dauerhafte Möglichkeit erwarten, den Laden zu betreten.“
Überrascht ist die Babysitterin bei Ernsting‘s family in der Mannheimer Straße. „Komisch, hier sollte ja schon die Anzahl von Kinderwagen so hoch sein, dass es eine Rampe gibt“, überlegt die Psychologiestudentin und ausgebildete Erzieherin vor der Stufe.
Stadtbegehung in Schwetzingen: Viele Geschäfte nicht barrierefrei
„Wir haben eine Rampe, die wir bei Bedarf nach vorne bringen“, erklärt eine Mitarbeiterin an der Kasse des Klamottengeschäfts. Aus Sicherheitsgründen dürfe die tragbare Stufenüberwindung nicht draußen bleiben. „Darauf sollte dann zumindest ein Schild hinweisen. Sonst fragt man ja nicht, sondern buckelt sich einen ab“, findet Rosalie, die den Rollstuhl mittlerweile über den Absatz gehoben hat.
Derartiges erlebt Mama Anja regelmäßig. „Fast alle Geschäfte haben eine Möglichkeit, sei es durch eine mobile Rampe oder einen Nebeneingang. Das weiß man aber nicht, weil es meistens keine Schilder gibt.“ Selbst wenn es einen Hinweis gebe, sei die Lösung nicht optimal: „Da steht dann, ich solle einen Mitarbeiter fragen. Lass ich dann den Rollstuhl mit meinem schwerbehinderten Kind vor der Türe stehen und gehe rein? Natürlich nicht, ich verzichte auf den Besuch im Geschäft.“
Es gibt auch viele Positivbeispiele in der Innenstadt Schwetzingen. „Das ist super, ebenerdig und dann erst einmal genug Platz innen, damit man den Rollstuhl auch drehen kann“, lobt Rosalie und zeigt zu Witt in der Mannheimer Straße. Ähnlich sieht sie auch das Salamander-Schuhgeschäft – auch, wenn die Rampe, die Erhöhungen beinhaltet, um das Rutschen zu verhindern, nicht perfekt ist. „Es schüttelt einen durch“, stellt auch Rollatorfahrerin Ellenore Kern aus Oftersheim fest, bevor sie relativiert: „Aber wir wollen nicht klagen. Das ist schon viel besser als zum Beispiel das Kaffeehaus, da hat man gar keine Chance über die Treppe reinzukommen.“
Es gebe eben viele Punkte, die erst auffallen, wenn man die Situation am eigenen Leib erlebt hat, resümiert Babysitterin Rosalie: „Das Gefühl, das ein Rollstuhlfahrer haben muss, wenn er vor der Treppe am Geschäft steht und drinnen einem Mitarbeiter Bescheid geben soll, dass er eine Rampe braucht, muss echt furchtbar sein.“ Und auch die vielen neugierigen Blicke, die oft verurteilend wirken, seien eines. „Da gewöhnt man sich aber dran. Höflich nachfragen, ob alles okay ist, hilft.“ Mama Anja glaubt, es brauche immer noch mehr Aufklärung: „Kinder sind nur neugierig, nicht wertend. Wenn Eltern Kinder mit Behinderung als normalen Teil der Gesellschaft erklären, dann werden das die Kinder später auch mal so weitergeben. ,Guck da nicht hin‘ ist auf jeden Fall nicht die richtige Reaktion.“ Denn dank Mats weiß Anja: „Alle Menschen sind auf unterschiedlichste Weise kunterbunt.“
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