Theater am Puls - Hartmut Lehnert begeistert die zugelassenen 28 Zuschauer in seiner Doppelrolle als Gudrun und Hermann / Dmitrij Koscheew brilliert am Flügel

Theater am Puls Schwetzingen begeistert mit "Büro, Büro"

Von 
Markus Mertens
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Drangvoll, stolz und zutiefst leidenschaftlich verleiht Hartmut Lehnert seiner Gudrun schauspielerisch und sängerisch Gestalt. © Mertens

Gudrun und Hermann – zwei Charaktere, eine Misere. „Büro, Büro“, das ist im Schwetzinger Theater am Puls die Wiederholung eines Worts, das auch für Elend stehen könnte – und doch so viel mehr meint, als das. Der philosophische Triumph nimmt vor haargenau 28 Zuschauern seinen Lauf. Und die weiß Intendant Joerg Steve Mohr hygienekonform in seinen Bann zu ziehen. Denn um Georg Kreislers Lieder zu einer Melange zwischen satirischem Biss und gesellschaftlichen Verfall zu vermengen, braucht Mohr nicht mehr als einen brillanten Dmitrij Koscheew am Flügel und einen Hartmut Lehnert, für den schauspielerische Grenzen in 100 Spielminuten im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden zu sein scheinen.

Denn zunächst verleiht Lehnert der bieder braun gekleideten Gudrun mit herber Hornbrille ganz feinsinnig Kontur. Das Bundeskanzleramt der 50er Jahre, ein farbloser Raum. Schreibmaschinentippen, bisweilen mal eine Zigarette, eine Banane zum Mittagstisch. Vor jedem Telefonat der Blick in den Taschenspiegel.

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Danach: Manchmal drangehen, manchmal gleich wieder auflegen. Formelhafte Routine inmitten absoluter Hilflosigkeit. „Wenn ich lieben dürfte, wen ich wollt’“ – ein kleiner Funke Hoffnung, der allzu rasch verglimmt. Denn nicht zuletzt der Tanz mit der Garderobe, der hier zum Kampf mit der Obrigkeit wird, zeigt: „Meine Freiheit ist nicht deine Freiheit.“

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Und so verzagt der Mensch, stellt die eigenen Vorstellungen und Ideale lieber hinten an, um sich dem ganzen Schlamassel pünktlich gen Feierabend zu entziehen. Als Ersatzbefriedigung dienen anschließend Utopien à la „Hast du ne D-Mark, dann hast du Kultur!“ Und wenn die sorgsam zur Unterschrift bereiteten Unterlagen regelmäßig vom fleischhungrigen Gebell des Chefs Konrad Adenauer zerrissen werden, gibt es ja immer noch genug Illustrierte, in denen Kreuzworträtsel auf ihre Lösung warten. „Ich habe zwar des Pudels Kern entkernt, aber über Pudel hab ich nichts gelernt.“ Es ist ein Geständnis der Leere, die nicht nur Partnerschaften gekostet, sondern auch Zuversicht vernichtet hat. Das letzte bisschen Freude ist hier das Zelebrieren der Kleinigkeiten.

Lieblosigkeit bleibt gleich

70 Jahre später ist aus Gudrun Herman, aus Konrad Adenauer Ursula von der Leyen und aus dem Bundeskanzleramt die EU-Kommission geworden. Doch das Tippen bleibt gleich. Der Verdruss bleibt gleich. Die Lieblosigkeit bleibt gleich. Nur die Konsequenzen, die werden andere. Denn auch Hermann flüchtet sich zwar mit seinem Flachmann in den Rausch, kriecht seinen Vorgesetzten in den Arsch und wütet über die Skrupellosigkeiten der Mächtigen („Ja, sie sind so mies“) – doch nur bis die letzten Körner menschlicher Empathie vollends aufgezehrt sind.

Da mag die Zuflucht in die Finsternis sonst ein opportunes Mittel der Frustrationsbewältigung sein – der arisch zurechtgekämmte Wutbürger erhebt den rechten Arm zum Kampfe, welches Opfer er dafür auch immer bringen mag. Die verflossenen Chancen auf ein trautes Heim, die bei Gudrun noch verlorene Lieben waren, werden bei Hermann zu höchstpersönlich Ermordeten, auf deren Leichen er Limbo tanzt. Auch so also kann Extremismus beginnen.

Doch es ist ein Extremismus des geistigen Niedergangs, den „Büro, Büro“ uns hier zeigt. Denn einerseits erleben wir hier einen Hartmut Lehnert, der die Vielfalt der nationalen Depression von der Zeit nach dem Krieg bis hin zur anonymisierten Gesellschaft der Neuzeit geradezu kongenial in einen Alltag brennt, wie er in tausenden Bürohochhäusern triste Realität ist. Andererseits sind die Texte von Georg Kreisler auch heute noch so aktuell, so gültig, scharf und bitter, dass Joerg Mohr nur hier und da den Stift ansetzen muss, um etwas Moderne auf Zeilen und Melodie zu holen.

Publikum jubelt

So braucht es denn auf der Bühne von Teresa Ungan und Tim Fertig nichts mehr als die scheinbar soliden Säulen zwischen Tür, Garderobe und Schreibtisch, um einen Kosmos zu beschreiben, der in seinen gut eineinhalb Stunden ironisch, hintersinnig und humorvoll, aber auch grausam, kühl und gewalttätig daherkommen kann.

Das Publikum bejubelt schlussendlich mit Recht einen Hartmut Lehnert, der mit Körper, Wesen und Stimme alles gab, aber doch auch warnend kündet. Denn wenn die Fassade fällt, kann Rettung nahen, oder Niedergang. Welches von beidem sich erfüllt, das haben wir dann in der Hand.

Info: Weitere Bilder von der „Büro, Büro“-Aufführung gibt’s unter www.schwetzinger-zeitung.de

Programm des Theaters am Puls im Juni, Juli und August

Juli: Freitag, 2. Juli, 20 Uhr: „Die Wunderübung“, Tickets 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro. Samstag, 3. Juli, 20 Uhr: „Fettes Schwein“, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro. Sonntag, 4. Juli, 16 Uhr: „Ein Schaf fürs Leben“, Schauspiel für Kinder ab 5 Jahre von Maritgen Matter, 6 Euro. Freitag, 9. Juli, 20 Uhr: „Der Kontrabass“, Schauspiel von Patrick Süskind, 16/12 (ermäßigt) Euro. Samstag, 10. Juli, 20 Uhr: „Fettes Schwein“. Sonntag, 11. Juli, 16 Uhr: „Taucherglocke“, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro. Freitag, 16. Juli, 20 Uhr: „Männerschnupfen“, Improvisationstheater „Als wir“, 16/12 (ermäßigt) Euro. Sonntag, 18. Juli, 16 Uhr: „Mist, die verstehen mich ja!“, Lesung mit Florence Brokowski-Shekete, 16/12 (ermäßigt) Euro. Freitag, 23. Juli, 20 Uhr: „Der Kontrabass“, 16/12 (ermäßigt) Euro. Sonntag, 25. Juli, 16 Uhr: „Taucherglocke“, 16/12 (ermäßigt) Euro. Samstag, 31. Juli, 20 Uhr: „Fettes Schwein“, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro.

August: Sonntag, 1. August, 11 Uhr: „Es war einmal“, Märchen für Kinder ab vier Jahren erzählt von Samiya Bilgin, 6 Euro. Freitag, 6. August, 20 Uhr: „Heute weder Hamlet“, 16/12 (ermäßigt) Euro. Sonntag, 8. August, 16 Uhr: „Büro, Büro“, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro. Sonntag, 15. August, 16 Uhr: „Sultan und Kotzbrocken“, nach dem Kinderbuch für Menschen ab fünf Jahren von Claudia Schreiber, 6 Euro. Freitag, 27. Au-gust, 20 Uhr: „Das weiße Rössel 2020“ (Premiere), musikalische Komödie von Nici Neiss und Stefan Ebert, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro. Samstag, 28. August, 20 Uhr, sowie Sonntag, 29. August, 16 Uhr: „Das weiße Rössel 2020“, 24/18 (ermäßigt)/12 (Kinder bis zwölf Jahre) Euro.

Karten gibt es im SZ-Kundenforum (Montag bis Freitag, 8 bis 12 Uhr) und unter https://theater-am-puls.reservix.de/events.

Für die Veranstaltungen im Theater stehen aufgrund geltender Hygieneregeln 28 Plätze zur Verfügung. Im Sommer Open Air Theater im Schlosspark gibt es 90 Plätze. kaba

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