Schwetzingen. Für viele Menschen in Deutschland ist die Türkei ein Urlaubsparadies. Sonne, Meer und Strand plus der außerordentlichen Kulinaria versprechen paradiesische Umstände. Immer noch findet sich die Türkei im Ranking der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen nach dem eigenen Land, Spanien und Italien auf Platz vier. Doch das Land ist unter Druck. Für den Juli verzeichneten die Statistiker bei den Gästezahlen ein Minus von fünf Prozent. Wobei das weniger mit den politischen Umständen zu tun hat, als vielmehr mit der hohen Inflation und der Aufwertung der türkischen Lira, die dem Tourismussektor massiv zusetzt.
Dabei gäbe es ganz andere Gründe, das Land als Reiseziel zu meiden. Für den Journalisten Aytekin Gezici, der vor vier Monaten nach Deutschland flüchtete, wird die Türkei von einem zunehmend autoritären Regime beherrscht, das den Rechtsstaat mittlerweile nahezu komplett ausgehöhlt habe. Die Türkei sei zu einem Potemkin‘schen Dorf mutiert. Demokratie werde nur noch simuliert. Und das Ergebnis sei Willkür. Eine Willkür, die Gezici mit 51 Jahren dazu zwang seine geliebte Heimat zu verlassen. „Ohne Freiheit kann ein Mensch nicht leben.“
1974 kam Gezici in Adana zur Welt. Eine Stadt mit über 1,7 Millionen Einwohnern im Süden des Landes, rund 40 Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Für ihn war schon früh klar, dass er schreiben will. Und das tat er auch. Neben dem Zeitungsjournalismus schrieb er mehrere Bücher und drehte zwei Dokumentarfilme über seine Heimatstadt. Dass er seine Heimat liebt, ist offensichtlich, dass er sie verlassen würde, war lange unvorstellbar.
Nach acht Jahren Gefängnis fühlt sich der Journalist immer noch nicht sicher
Von 2016 bis vergangenes Jahr war er im Gefängnis. Und sogar in dieser Zeit hoffte er, dass sich die Gefängnistüren öffneten und vom Staat eine Entschuldigung käme. Doch sie kam nie, bis heute nicht. Und angesichts der Gefahr, nach seiner Entlassung erneut verhaftet zu werden, entschloss er sich zur Flucht – zu Fuß und ohne seine Frau und seine drei erwachsenen Söhne. Seine Familie zurückgelassen zu haben, ist das Schlimmste für ihn. Es ist der Moment im Gespräch mit dieser Redaktion, bei dem er ins Stocken gerät. Die Worte werden auf einmal schwer und sind von einer großen Traurigkeit erfüllt.
Seine Frau drängte ihn zu gehen. Aber nach der Gefängniszeit jetzt schon wieder von ihr und seinen Kindern getrennt zu sein, schmerze. Auch weil er Angst hat, dass jeden Moment die Polizei bei ihm vor der Tür stehen und seine Frau oder seine Kinder verhaften könnte. Auf die Frage, warum das drohe, erklärt er sehr nüchtern, dass es dafür keine Gründe brauche. „In Deutschland kann man sich das nicht vorstellen. Aber es ist die reine Willkür. Die Polizei braucht keine Gründe, denn die Türkei ist kein Rechtsstaat mehr.“
Der 51-Jährige hofft, dass er Asyl bekommt und seine Familie nachholen kann
Noch läuft das Asylverfahren. Und es ist seine größte Hoffnung, dass er hier bleiben und seine Frau sowie die Söhne nachholen kann. Was ihm bevorstünde, wenn ihm das Asyl versagt und er abgeschoben wird, scheint klar. Es wartet erneut das Gefängnis. Denn das Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sei rachsüchtig und ersticke jede Opposition, ja jedes kritische Denken.
Für die Türkei selbst hat er derzeit nur sehr wenig Hoffnung. Eine mächtige Elite profitiere von dem autoritären, totalitären Gebaren des Präsidenten und das Volk sei vor dem Hintergrund der andauernden Gewalt, Willkür und Einschüchterung müde. Seit 2003, seit bald einem Vierteljahrhundert, dominiere Erdoğan das Land und agiere immer aggressiver und autoritärer. Kritik an ihm und der Politik stünden bei Lichte betrachtet unter Strafe, was journalistisches Arbeiten unmöglich mache. „Das Lebenselixier für den Journalismus ist die Freiheit, wahrhaftig Sein und Schreiben zu können“, sagt Gezici. Er hält kurz inne und betont dann, dass das mit der Freiheit immer gelte. Nur freie Gesellschaften seien auf Dauer erfolgreiche Gesellschaften.
Demokratieverständnis des Neurophysiologen Wolf Singer
Es sind Worte, die an den Neurophysiologen Wolf Singer und sein erstaunliches Plädoyer für die Demokratie erinnern. Demokratien, so Singer, seien aufgrund ihrer Diversität und Toleranz für unterschiedliche Meinungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gelingende Zukunft eigentlich gut gerüstet. Die Pluralität und die enge horizontale Vernetzung der Akteure ermögliche in komplexen Systemen Stabilität und Selbstorganisation.
Stark hierarchische, totalitäre Systeme seien dagegen extrem anfällig. Sie beruhten auf der Illusion, es gäbe allwissende Dirigenten. Abgesehen davon seien vertikal strukturierte Systeme kaum zur Selbstorganisation fähig. Denn sie verzichteten auf die Synergien verteilter Kompetenzen und entbehrten deshalb jedweder Resilienz gegenüber Unvorhergesehenem. Nicht von ungefähr habe die Evolution extrem komplexe Systeme hervorgebracht, die auf Selbstorganisation vertrauten und keinen Dirigenten bedürfen – siehe das menschliche Gehirn. Mit Dirigenten gäbe es kein funktionierendes Gehirn, genau wie es unterm Strich mit Dirigenten keine nachhaltig funktionierende Gemeinschaft gibt.
Und genau für diese Freiheit ohne Dirigenten will Aytekin Gezici nun hier kämpfen. Deutschland, das ist sein unbedingter Wille, soll seine Heimat werden. „Ich will ein Kind dieses Landes sein.“ Und er will etwas beitragen. Klar würde er gerne wieder schreiben. Und darauf hinweisen, wie schnell Freiheit verloren gehen kann. Aber vor allem stünde nun erst einmal der Entscheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Bei diesem Verfahren steht im Martina Wüst bei. Sie, die schon lange beim Café International in Schwetzingen mithilft, hofft sehr, dass das Verfahren zu Gezicis Gunsten verläuft. Sein Lebensweg beeindruckt sie. Es wäre schön, wenn er gemeinsam mit seiner Familie hier seine neue Heimat finden würde, sagt sie.
Das Café International in den Räumen der evangelischen Gemeinde am Schlossplatz 9, hat seine Türen jeden Donnerstag zwischen 17 und 19 Uhr geöffnet.
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