Schwetzingen. Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen wegen des unerschöpflichen Reichtums seiner Töne, urteilte einst Beethoven über Johann Sebastian Bach. Und kein anderer Komponist kann den ruhelosen Menschen des 21. Jahrhunderts besser zu lauschender Konzentration bewegen als Bach. Das machte wieder einmal der musikalische Gottesdienst in der evangelischen Stadtkirche eindrücklich erfahrbar mit der Aufführung von zwei seiner Kantaten.
Zu erleben waren „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (Kantate BWV 40) und als Höhepunkt „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (Kantate BWV 1). Der leuchtende Gesang des Bezirkschors Cappella Vocale, verstärkt durch das klar artikulierte Spiel des Ensembles Operone unter der Leitung der Kirchenmusikdirektoren (KMD) Detlev Helmer und Christian Schaefer, entfalteten im Kirchenraum ein beeindruckendes Spektrum an Klangfarben, das die Thematik von Bachs Kantaten deutlich konturierte.
Einzigartig an diesem Gottesdienst war zudem, wie Pfarrer Steffen Groß sie in die Liturgie eingebettet hat. Mit dem Eingangschor „Dazu ist erschienen der Gottes Sohn“ haben die Musikerinnen und Musiker mitten im Mai Weihnachten werden lassen, sagte er, das durchaus seine Richtigkeit hat, denn „das Werk hat Bach für den zweiten Weihnachtsfeiertag geschrieben“. Die Kantate „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ komponierte Bach für das Fest Maria Verkündigung. „Ein weiter Bogen also, getragen von wunderbarer Musik in diesem Gottesdienst“, zu dem Groß alle herzlich willkommen hieß: die Mitwirkenden, die zahlreichen Besucher sowie die Delegation aus der amerikanischen Partnerstadt Fredericksburg, die mit Oberbürgermeister Dr. René Pöltl einen prominenten Dolmetscher dabei hatte. Steffen Groß selbst begrüßte sie auf Englisch.
Würdigung für Detlev Helmer beim Kantatengottesdienst in Schwetzingen
Beim Gottesdienst anwesend war auch Dekanin Annemarie Steinebrunner. Sie überbrachte KMD Detlev Helmer die Glückwünsche und Dankurkunde der Evangelischen Landeskirche Baden für 40 Dienstjahre. Wie kein anderer vermittelte Helmer die Kirchenmusik als lebendige Kultur, und dies auf höchstem Niveau, so die Dekanin. Diesen Anspruch löste er auch an diesem Tag voll und ganz ein. Die Aufführung der Kantaten geriet für sie zu einem wunderbaren Erlebnis wie auch für OB Pöltl. „Dieser musikalische Gottesdienst bildete ein denkwürdiges Ereignis“, wie er gegenüber unserer Zeitung gestand. Bachs Kantaten gewannen unter Helmers und Schaefers Leitung eine beeindruckende Expressivität. Es war schlichtweg eine Freude, mit welcher Plastizität und Klarheit die Sängerinnen und Sänger der Cappella Vocale den Chorpart erfüllten, wie das Ensemble Operone Bachs wellenförmig fortbewegenden Stil wirkungsvoll zum Klingen brachte, und wie die beiden vorzüglichen Solisten, die Sopranistin Angelika Reinhard und Ingo Wackenhut, mit ihren klangschönen Stimmen zum emotionalen Kern der Arien und Rezitative vordrangen.
Stimmiges Konzept beim Kantatengottesdienst in Schwetzingen
Eine geschlossene Einheit mit den Kantaten bildeten die Gebete, der Gesang der Gemeinde, die Lesung sowie die Predigt des Pfarrers Steffen Groß. Darin deutete er den Text der Kantate „Wie schön ist der Morgenstern“ in Zusammenhang mit der Biografie ihres Autors, des lutherischen Predigers Philipp Nicolai (1556 – 1608).
Geschrieben hat er die Verse in einer dunklen Zeit, als die Pest in Europa und in seiner westfälischen Heimatstadt Unna wütete. „Beinahe 800 Menschen hat die Pest in dieser Stadt schon getötet“, schrieb Nicolai an seine Brüder Johannes und Jeremias. „Und dann das!“, staunte Groß, „Wie schön ist der Morgenstern“ – ausgerechnet solche Verse, die die Liebe und die Schönheit des Lebens besingen, schreibt er.
Wie geht das zusammen? „Offensichtlich war für Nicolai der harte Alltag nicht anders zu ertragen als so, wie er es in seinem Lied tut“, kommentierte Groß, „er malt sich die Liebe Gottes in den schönsten Farben vor Augen.“ Projektion? Mag sein, vor allem aber spiegelt sich hier Erfahrung wider, Gotteserfahrung. „Philipp Nicolai hat erlebt, was es heißt, auch gegen allen Schein zu glauben, inmitten von Angst und Tod“. Pfarrer Groß wünschte allen eine ähnliche Morgenstern-Erfahrung, für ihn war es die „atemberaubend schöne Interpretation“ des Nicolai-Liedes. Denn es schaffte etwas, was nur Musik kann: „Ganz neue, innere Welten zu öffnen. (…) Dann kann es geschehen, dass die kühne Hoffnung, die Nicolai inmitten von Leid und Tod herbeisingt, auch unsere Hoffnung wird.“
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