2022 sollen die deutschen Meiler vom Netz genommen werden – andere Länder dagegen bauen neue

Wie die Zukunft des Atomstroms aussehen könnte - eine Betrachtung

Von 
Stefan Kern
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Vor 20 Jahren fiel der Beschluss, vor elf Jahren wurde noch mal ein Turbo eingelegt und nun ist er da: der Termin, an dem alle deutschen Atommeiler abgeschaltet werden sollen. Eine Betrachtung der Lage.

Die Sache schien klar. Das Atomzeitalter neigt sich aus deutscher Sicht dem Ende zu. Bis Ende des Jahres gehen laut Ausstiegsplan die restlichen drei Atomkraftwerke (AKW), die hierzulande für noch rund sieben Prozent des Stroms sorgen, vom Netz. Das Risiko eines Unglücks, die ungeklärte Entsorgungslage und die Kosten machten AKWs aus deutscher Sicht nicht nur zu einer Hochrisikotechnologie, sondern auch unrentabel. Doch der Blick auf diese scheinbar klare Rechnung ändert sich gerade. Und das nicht nur infolge der Aggression Russlands gegen die Ukraine, die als Kollateralschaden die sichere Gasversorgung Deutschlands massiv infrage stellt. Und das ist wichtig, weil Deutschland auf dem Weg ins regenerative Energieversorgungszeitalter auf Gas als Brückentechnologie gesetzt hat. Was in Europa schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine für Kritik sorgte.

In Frankreich verkündete Präsident Emmanuel Macron vor wenigen Wochen, dass das Land den Auftrag für den Bau von sechs Kernreaktoren gegeben habe und der Auftrag für acht weitere geprüft werde. Anders könnte die Klimaneutralität bis 2050 nicht erreicht werden. Auch Belgien hat zum Zwecke der Energieversorgungssicherheit vor wenige Tagen beschlossen, die Laufzeit der beiden Kernkraftwerke Tihange 3 und Doel 4 bis mindestens 2035 zu verlängern. In Finnland ist gerade der Atommeiler „Olkiluoto 3“ ans Netz gegangen, was nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den dortigen Grünen mit großer Mehrheit begrüßt wird.

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Die Vorsitzende der Grünen-Jugend, Peppi Seppäla, erklärte hierzu, dass es am wichtigsten sei, jetzt CO2-Emissionen zu senken. Eine Priorität, die sie in Deutschland mit dem Entscheid für Gas vermisst. Wenn man davon ausgeht, dass der Klimawandel die absolute Gefahr ist, wird das AKW-Risiko zur Abwägungssache. Was stimmt, ein AKW-GAU (Größter Anzunehmender Unfall) ist bei aller Dramatik ein regionales Unglück. Ein Unglück in Finnland hat für die Seychellen keine Bedeutung. Die Folgen des Klimawandels sind dagegen global. Heißt, ein CO2-Molekül aus Finnland hat einen Effekt auf die Seychellen.

Es ist eine Brücke notwendig

Auch in Finnland ist es Ziel, eine komplett regenerative Energieversorgung aufzubauen. Doch die Mehrheit in Finnland glaubt, ähnlich wie in Frankreich, dass das ambitionierte Ziel – die Klimaneutralität bis 2035 oder 2040 – nur mit der Brücke AKW erreicht werden kann. In Deutschland soll der Ausbau der Gasversorgung diese Brücke in eine CO2-neutrale Energieversorgung bis 2045 sein. 14 Milliarden Euro sollen hierfür investiert werden.

Aus finnischer Sicht sieht das jedoch wie die weitere Zementierung einer klimaschädlichen Energieversorgung aus. Das Verbrennen von Gas verursacht zwar nur halb soviel CO2 wie das Verbrennen von Kohle. Aber das ist immer noch viel klimaschädliches Gas, das bei der Nutzung der Kernspaltung nicht entstehen würde.

Dass es eine Brücke hin zur regenerativen Energieversorgung braucht, scheint unstrittig. Die Dimensionen sind gewaltig. Deutschland hat aktuell einen jährlichen Stromverbrauch von 550 Terrawattstunden. Nach Schätzungen der Denkfabrik „Agora“ wird sich der Stromverbrauch des Landes im Zuge der zunehmenden Elektrifizierung bis 2045 auf 1000 Terrawattstunden annähernd verdoppeln. Vor dem Hintergrund, dass die erneuerbaren Energiequellen derzeit für rund 250 Terrawattstunden stehen, müssten die regenerativen Kapazitäten vervierfacht werden. Das Ausbauvorhaben des grünen Wirtschafts- und Klimaministers Robert Habeck ist also äußerst ambitioniert. Und um es sehr klar zu sagen: Ein Scheitern ist nicht ausgeschlossen.

Der Widerstand gegen noch mehr Windturbinen ist hoch und ein schneller Ausbau ist daher mindestens fragwürdig. Und was dann? Laufzeiten für Kohlekraftwerke verlängern, noch mehr Gaskraftwerke und damit noch mehr CO2 in der Atmosphäre? Aus Sicht von Seppäla kein wünschenswertes Szenario. Es ist eine Spannung, die auch die Geschäftsführerin des Stadtwerke Schwetzingen, Martina Braun, genau im Blick hat (siehe Interview).

Neue Technologien

Verkompliziert wird die Lage durch neue Technologien namens Dual-Fluid-Reaktoren, die zumindest auf dem Papier versprechen, inhärent sicher zu sein und sogar Atommüll als Brennstoff verwenden können. In diesen Reaktoren, deren Technik schon in den 1960er Jahren entwickelt wurde, kommen nicht Brenn-stäbe, sondern 1000 Grad heißes, geschmolzenes Uran zum Einsatz. Die aus der Kernspaltung entstehende Wärme wird über flüssiges Blei abgeführt (zwei Flüssigkeiten – Dual Fluid). Als Vorteil wird von Befürwortern angeführt, dass der flüssige Brennstoff, je heißer er wird, sich ausdehnt, und damit die Kettenreaktion verlangsamt. Eine Kernschmelze soll damit unmöglich sein.

Eine Schlussfolgerung, der nicht alle Experten folgen. Wie bei allen atomaren Kettenreaktionen entstehe auch nach einer Abschaltung Wärme, die abgeführt werden muss. Wenn diese, weshalb auch immer, nicht mehr gewährleistet sei, so Christoph Pistner, Bereichsleiter Nukleartechnik beim Öko-Institut Darmstadt, drohe ein GAU, auch im Dual-Fluid-Reaktor. Ein weiteres Risiko sei das waffenfähige Plutonium, das in solchen Reaktortypen verstärkt entstehe. Noch mehr waffenfähiges Plutonium auf der Welt erscheint wenig wünschenswert.

Viele Faktoren – großes Dilemma

Auch die Titanic galt aus damaliger Sicht als inhärent sicher. Die Geschichte hat uns eines Besseren gelehrt. Das heißt aber nicht, dass Gesellschaften keine Risiken eingehen sollen.

Es sieht so aus, dass sie es auf irgendeine Art sogar müssen. Die Gefahren des Klimawandels versus der Risiken aus der Kernspaltung, der ständig steigende Stromverbrauch und die Hürden des Ausbaus für regenerativen Energiequellen, der enger werdende Zeitkorridor, das ungeklärte Entsorgungsproblem und die Gefahr einer eskalierenden Kostenspirale für Energie – das Dilemma ist gewaltig.

Als wäre das nicht schon genug, kommen nun auch noch geopolitische Faktoren ins Spiel. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wirft die Frage auf, wie klug es ist, sich auf Russland als Hauptlieferant für Erdgas zu verlassen. Und wenn es beim Gas als Brückentechnologie bleibt und die Bezugsquellen vielfältiger werden sollen, bedeutet das auch mehr Fracking-Gas, dessen CO2-Bilanz deutlich schlechter ist als bei herkömmlich gefördertem Erdgas. Es wäre schon viel gewonnen, wenn es für dieses Energiedilemma ein Bewusstsein gebe, sich die Gesellschaft auf Augenhöhe zu dem Problem befände, denn die Anstrengungen werden so oder so gewaltig.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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