Speyer. Vielfalt ist in der Speyerer Kult(o)urnacht Programm. Und Kontrastwirkungen sind beim Flanieren vom Konzert bis zur Ausstellung, von der Lesung bis zum Theater erwünscht. Wer dann noch nicht genug hat, kann beim Aufstieg auf die 60 Meter hohe Aussichtsplattform des Doms die Stadt von oben begutachten. Viele Menschen haben sich hierfür in eine Schlange gestellt – und überhaupt trübt angesichts der zahlreichen unternehmungslustigen Nachteulen noch nicht einmal das wechselhafte Wetter die Lust am Flanieren und Genießen.
Das Veranstaltungsprogramm in Museen, Galerien, Kultureinrichtungen und Kirchen lässt sich allerdings nicht im vollen Umfang bewältigen. Selbst wer ein akribisches Zeitkonzept austüftelt, schafft noch nicht einmal sämtliche musikalischen Angebote. Zumal es nicht leicht ist, sich von einem Ort loszureißen, um noch schnell woanders ein paar Töne aufzuschnappen.
Wer sich in den Geschäftsräumen der Sparkasse Vorderpfalz zuvor ein wenig Bargeld aus dem Automaten ziehen möchte, um sich unterwegs einen Imbiss genehmigen zu können, wird dabei von Mozartmusik begleitet. Auf einer kleinen Bühne stehen Streicherinnen der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, die als Chiarina Quartett mit zwei Divertimenti des Salzburger Komponisten einen geschmackvollen Auftakt dieser Kult(o)urnacht liefern.
Kirchliches Leben floriert bei Speyerer Kult(o)urnacht
Während der radelnde Musikliebhaber in der Fußgängerzone noch ein wenig gepflegten Akustikjazz des Karlsruher „Salon du Jazz“ aufschnappt, das selbst mit Titeln wie „Crime Time“ oder „Klotz am Bein“ ein entspanntes Flair verbreitet, freuen sich in der Heiliggeistkirche bereits die Fans des 1996 verstorbenen Sängers von „Ton Steine Scherben“, Rio Reiser, auf Moritz Erbach (Keyboard) und Andreas Krüger (Gesang), die als „Möbius“ – so der bürgerliche Nachname Reisers – dessen aufsässige und wildromantische Songs aufpolieren. „So habt ihr den noch nie gehört“, verspricht Krüger und legt mit rauer Stimme los, während Tastenkünstler Erbach jedem der Lieder ein raffiniertes Sounddesign verpasst.
Während die Heiliggeistkirche inzwischen nur noch als Kulturstätte genutzt wird, floriert kirchliches Leben in der schräg gegenüberliegenden Dreifaltigkeitskirche wie eh und je. Auch wenn die barocke Orgel verstummt ist – ein neues Instrument wird gerade gebaut – so stimmt der evangelische Posaunenchor Speyer in gewohnt sakraler Kulisse seine Weisen an, die mehrere Jahrhunderte umfassen: von Antonio Vivaldi bis zum festlich-beschwingten Bläserarrangement des Mannheimer Organisten und Komponisten Johannes Michel. Auch die Besucher singen mit – die beiden Choräle „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „Bewahre uns Gott“ sind offenbar hinlänglich bekannt.
Einer der Höhepunkte ist im Speyerer Dom zu hören
Natürlich steht auch der Dom nicht außen vor. Als Konzertstätte spielt er im Kulturleben von Speyer ohnehin eine wichtige Rolle. An der Hauptorgel hat Frederic Beaupoil Platz genommen. Der musikalische Assistent der Dommusik Speyer ist ein versierter Organist, der mit seinem Programm „Dancing Pipes“ nicht zu viel versprochen hat.
Die Stücke von Johann Sebastian Bach, Alfred Herbert Brewer und Peter Planyavsky präsentieren die Orgel als tanzbegabtes Instrument, dem Rumba-Rhythmen nicht fremd sind. Mit dem ersten Satz aus Charles-Marie Widors fünfter Orgelsymphonie entfaltet der junge Kirchenmusiker die ganze Klangpracht der Seifert-Orgel und beschert den zahlreichen Zuhörern im Dom sicherlich einen der zahlreichen Höhepunkte dieser Kult(o)urnacht.
Literatur ist bei der Kulturnacht Teil des Dreiklangs
Optische und akustische Reize bestimmen das Geschehen im zeitweise völlig überfüllten Feuerbachhaus. Führungen durch das Museum im Obergeschoss fanden ebenso Anklang wie die Ausstellung „Emotionen in Farbe“ von Silke Ballheimer, die mit handsignierten Kunstdrucken zu den Originalen überrascht. Viel Beifall gibt es für den Musiker Dario Allegro, der am Stage Piano und der Gitarre Songs einer Disco-Funk-Band neu arrangiert.
Kunst und Musik sorgen beim Künstlerbund in der Großen Sämergasse für gute Laune, wo Mitglieder eine Ausstellung mit kleineren Objekten präsentierten. Die Dauer der Werkschau mit Malereien, Grafiken, Fotografien, Skulpturen und einer an die Genesis angelehnten Installation beschränkte sich jedoch aus Zeitgründen auf das Wochenende. Musikalisch schöpfte DJ Stefan „Hering“ Cerin aus einem Fundus von weit über 100 Schallplatten, was den Plattenteller in Bewegung hielt.
Mit einem Dreiklang aus Literatur, Kunst und Musik ist der Inhaberin des erstmals an der Kult(o)urnacht beteiligten Seminar- und Kulturhauses „Brilliant Spaces“ im ehemaligen Gemeindehaus Trinitatis ein Glücksgriff gelungen.Während die musikalische Unterhaltung mit Jazz und Pop in bewährten Händen von Lehrern und Schülern der Musikschule Speyer lag, lasen Angehörige des Vereins „Literatur und Musik“ unter anderem aus den Erinnerungen einer Verstorbenen, die ihr Leben von der Kindheit bis kurz vor ihrem Ableben in Lyrik und Prosa niederschrieb.
Das Thema „Lebensspuren“ beherrscht die Kunstausstellung der iranischen Malerin Hila Hassanija. Die Arbeiten der gelernten Grafikdesignerin erzählen Geschichten von Flucht, Asyl und Integration.
Kulturhof als Zentrum der Speyerer Kult(o)urnacht
Nicht nur geografisch, sondern auch stimmungsmäßig entwickelt sich der Kulturhof zum gefühlten Mittelpunkt der Speyerer Kult(o)urnacht. Das hat nicht nur mit den zahlreichen Kulturlocations in diesem Areal zu tun, sondern auch mit den dort präsentierten Beiträgen.
Am Freitagabend waren es die Jungs von „Total Banal“, die für gute Laune und ausgelassene Stimmung vor dem Kulturbüro sorgten. Mit ihren frischen und fetzigen Songs, teils gecovert, teils auch als Eigenkompositionen mit deutschen Texten, versprühten sie den Spaß und die Lebensfreude einer Highschool-Pop-Band. Sie hatten das überwiegend junge Publikum schnell auf ihrer Seite. Bereits beim zweiten Set gab es kaum noch ein Durchkommen im Kulturhof.
Das Quartett spielt im Speyerer Judenhof zu fünft
Während im Hof die Stimmung stieg, konnten Kulturflaneure in den Räumlichkeiten von Städtischer Galerie und Kunstverein die Jubiläumsausstellung „40 Jahre Künstlerbund Speyer“ erkunden. Im Alten Stadtsaal haben verschiedene Theater-Ensembles Kostproben aus ihrem Schaffen präsentiert.
Der Verkehrsverein setzte auf Bewährtes und hatte erneut das Heidelberger Klezmer-Quartett in den Judenhof eingeladen. Sie sind zur Kult(o)urnacht seit Jahren eine feste Bank im mittelalterlichen jüdischen Gemeindezentrum von Speyer. Wenn die Dämmerung einsetzt und ihre Melodien aus der Klezmer-Tradition erklingen, dann entsteht vor den alten Synagogenmauern im Judenhof eine zauberhafte Stimmung. Walzermelodien und bekannte Songs wie „Bei mir bist Du scheen“ durften dabei nicht fehlen.
Die überraschenderweise fünf Musiker im „Quartett“ haben die Lacher ganz auf ihrer Seite, wenn sie erklären, warum sie zu fünft im Quartett spielen. Sie verstehen es auch, wichtige Informationen über ihr Programm ans Publikum weiterzugeben. Das fünfköpfige Quartett aus Heidelberg spielt Stücke, die sich auf die Spielweise der osteuropäischen Klezmorim konzentrieren. Das klingt mal melancholisch, mal übermütig, stets aber enorm tänzerisch.
Sonderdruck aus der Winkeldruckerey ist begehrt
Gefragt war an diesem Abend auch die Speyerer Winkeldruckerey. Bis nach Mitternacht standen Johannes Doerr und Remo Krembel an den historischen Druckmaschinen im Kulturhof und gaben bereitwillig Auskunft über den Bleisatz und den künstlerischen Handpressendruck. Beide sprachen von einem jungen, sehr interessierten Publikum an diesem Abend.
Der speziell für dieses Ereignis gefertigte Sonderdruck „Kulturnacht 2024“ fand reißenden Absatz bei den Besuchern der historischen Druckerei. Kontinuierlich musste die Druckerpresse mit dem vorgefertigten Druckstock angeworfen werden.
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