Speyer. Herr Scheck, nach dem „Kanon der Weltliteratur“ nun die „Bestsellerbibel“. Was hat Sie dazu gedrängt, abermals die literarische Spreu vom Weizen zu trennen?
Denis Scheck: Man wird als Kritiker ja öfter mal als „Literaturpapst“ tituliert. Das ist natürlich Kokolores, aber es brachte mich auf die Idee, wenn schon, denn schon die nächste Karrierestufe zu erklimmen und eine Bibel zu verfassen. Besonders großen Spaß hat mir gemacht, in meinem neuen Buch „Zehn Gebote des Lesens“ aufzustellen. Das Wichtigste davon lautet: „Lesen Sie skeptisch. Trainieren Sie Ihr Gespür für den Unterschied zwischen Brillanz und Blödsinn.“ Wer sich mit Jane Austen, Franz Kafka und Ernest Hemingway literarisch fit hält, ist für Populisten wie Trump, Putin oder die gefährlichen Schwachsinnsschwurbler der AfD weniger empfänglich.
Sie benennen ebenso deutlich, welcher Roman es verdient, als Weltliteratur bezeichnet zu werden, wie Sie den Schund der Spiegel-Bestsellerliste in den Müll befördern. Fitzek, Coelho, Hahne und andere. Aber können so viele Leser irren, die diese Bücher kaufen?
Dass der Literaturkritiker die Krone der menschlichen Evolution und die höchste Form menschlichen Daseins ist, darf ich wohl als unstrittig voraussetzen
Scheck: Kunst und Massengeschmack gehen selten zusammen. Das ist in der Literatur genauso wie in der Gastronomie. Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine der zehn meistverkauften Mahlzeiten Deutschlands essen – schießen Ihnen angesichts der Vorstellung, welch unverdaulicher Autobahnraststätten-Mampf da wohl aufgetischt wird, nicht unwillkürlich die Verdauungssäuren gegen die Magenwände?
Welche objektiven Kriterien gibt es, um Literatur in gut oder schlecht einzuteilen?
Scheck: Jedes Buch stellt die Maßstäbe, nach denen es beurteilt werden möchte, im Grunde selbst auf – und diese Maßstäbe sehen bei einem Krimi oder einem Kochbuch natürlich anders aus als bei einem Lyrikband. Ästhetische Kriterien können lauten: Wie glaubhaft sind die Dialoge? Wie originell die Charaktere? Wie plausibel der Plot? Hat der Autor ein Auge für Landschaftsbeschreibungen? Vermag er Klischees aufzubrechen? Ein gutes Buch verändert meine Sicht auf die Welt. Notfalls lenkt es meinen Blick mit mehr oder minder sanften Ohrfeigen in eine Richtung, in die ich mich bislang nicht zu schauen traute.
Welchen Nutzen haben solche Bewertungen? Ist es mittlerweile nicht wichtiger, dass die Leute überhaupt lesen als die Frage, worum es sich dabei handelt?
Scheck: Ich verstehe mich als Literaturkritiker nicht als Teil von Alphabetisierungskampagnen – wir leben schließlich nicht in der Dritten Welt. Zur immer weiteren Verflachung trägt vielleicht gerade das kampflose Aufgeben früher selbstverständlicher bürgerlicher Maßstäbe bei. Kritik ist eine wunderbare Erfindung zur Verbesserung der Welt. Dabei muss sich Kritik nicht unbedingt auf Kunst, Literatur oder Musik beschränken. Angesichts der deplorablen Qualitäten in vielen Kettenbäckereien müsste zur Zeit vielleicht die Brötchen- und Brotkritik in Deutschland Triumphe feiern.
Die Termine bei Speyer.Lit
- Denis Scheck eröffnet die Reihe Speyer.Lit am Mittwoch, 29. Januar, um 19.30 Uhr im Ratssaal des Historischen Rathauses mit seiner „Bestsellerbibel“.
- Eckhart Nickel liest am Donnerstag, 6. Februar, 19.30 Uhr, im Alten Stadtsaal aus „Punk“, eine Erzählung über das Wunderland der Popkultur.
- Nach ihrem gefeierten Debüt „22 Bahnen“, den sie vor einem Jahr in Speyer präsentierte, kehrt Caroline Wahl am Dienstag, 18. Februar, 19.30 Uhr, zurück. Im Alten Stadtsaal liest sie aus dem Nachfolgeroman „Windstärke 17“.
- Ein unverwechselbarer und kompromissloser Blick auf die USA zeichnet Stefanie Sargnagels Buch „Iowa“ aus. Bei Speyer.Lit ist die Autorin am Mittwoch, 5. März, 19.30 Uhr, im Alten Stadtsaal.
- Klarinettist Hans-Jürgen Herschel und Saxofonist Lömsch Lehmann unternehmen am Donnerstag, 13. März, 19.30 Uhr, im Alten Stadtsaal einen literarisch-musikalischen Streifzug durch die Welt des Buches.
- Die Reihe Speyer.Lit beschließt die aus Aserbaidschan stammende und in Wien lebende Schriftstellerin Olga Grjasnowa am Donnerstag, 20. März, 19.30 Uhr, mit einer Lesung aus ihrem aktuellen Roman „Juli, August, September“.
- Eintrittskarten gibt’s beim Ticketportal reservix.de. urs
Auf der Internetseite des Verlags, in dem ihre „Bestsellerbibel“ erschienen ist, werden Sie in einem Nutzerkommentar als „alter weißer Mann“ bezeichnet, der die Bücher, die er verreißt, noch nicht mal ganz gelesen habe. Wenn man an Fitzek oder Coelho denkt, mag das ja auch tatsächlich zu viel verlangt sein . . .
Scheck: Zum Berufsethos eines Literaturkritikers gehört es meiner Ansicht nach, sich in der Öffentlichkeit nur über Bücher zu äußern, die er auch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hat. Vielleicht fallen meine Urteile zu Coelho, Fitzek und Co. ja deshalb relativ harsch aus, weil ich diese Bücher tatsächlich gelesen habe. Ansonsten kommen mir solche im Internet grassierende Passepartout-Anwürfe wie „alter weißer Mann“ wie eine Erinnerung an niveaulose Kabbeleien auf dem Schulhof meiner Kindheit vor. Was kommt als Nächstes – der Vorwurf, dass ich eine Brille trage und abstehende Ohren habe?
Lesen macht nach Ihrer Auffassung „schön, schlank und sexy“. Seit der Erfindung des Buchdrucks dient das Lesen zur Ausbildung von Vernunft und Verstand. Inzwischen verfügen wir über Informationen in einem noch nie dagewesenen Umfang. Dennoch übernehmen Dummheit und Dreistigkeit das Zepter. Was passiert da gerade?
Scheck: Ich zähle nicht zu den Menschen, deren politisches Credo „Früher war besser“ lautet. Früher standen Frauen hinterm Herd, Schwule und Lesben mussten ihre Sexualität im Verborgenen ausleben und uneheliche Kinder kamen für politische Ämter nicht infrage. Sehnt sich irgendwer nach diesen Zeiten zurück? Mir hat ein Satz aus dem amerikanischen Comic-Strip „Pogo“ immer gute Dienste als politische Richtschnur geleistet: „We have met the enemy, and he was us!“ Statt also mit dem Finger auf andere zu zeigen und überall nur noch Barbaren an den Schalthebeln der Macht zu wähnen, sollten wir uns vielleicht fragen, was wir selbst tun, um unser Gemeinwesen lebenswerter, demokratischer und, verzeihen Sie das obszöne Wort, schöner zu machen. Ich versuche mit meinen Sendungen einen Beitrag dazu zu leisten.
Ist das Erstarken des Autoritarismus und die sinkende Akzeptanz der freiheitlichen Demokratie auch ein Symptom für eine mangelnde Lesekultur?
Scheck: Lassen Sie uns durch unser persönliches Beispiel dafür sorgen, dass die Barbaren vor den Toren bleiben. Vielleicht müssen wir Kultur nicht nur als Inklusions-, sondern auch als Exklusionsmittel entdecken. Ich möchte jedenfalls keinen Bundeskanzler mit dem Bildungshorizont einer Alice Weidel erleben und werde sicher niemanden wählen, dem nicht nur der Hass auf das Fremde, sondern auf Kunst, Wissenschaft und Kultur insgesamt aus jedem Knopfloch strahlt.
Literaturkritik und Humor schließen sich bei Ihnen nicht aus. In früheren Zeiten konnte eine Literaturkritik hingegen schon einmal die Republik ins Wanken bringen. Was hat sich da geändert?
Scheck: Ich habe ja auch ein bisschen Politikwissenschaft studiert und bin alles in allem doch recht froh, in der Bundesrepublik Deutschland in einem politischen System zu leben, das sich nicht durch eine Literaturkritik erschüttern läßt. Der Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist jedenfalls blendend: Denken Sie nur mal an die Vielfalt und Qualität, für die zum Beispiel Namen wie Christoph Ransmayr, Terezia Mora, Daniel Kehlmann, Julia Schoch, Jan Wagner, Judith Hermann, Saša Stanišić, Antje Ravik Strubel, Wolf Haas oder Thomas Hettche stehen.
Wie lauten Ihre weiteren Pläne? Gibt es neue Ideen, neue Formate?
Scheck: Neben „Druckfrisch“, meiner monatlichen Literatursendung in der ARD, arbeite ich als Literaturkritiker hauptsächlich für den WDR und schreibe eigene Bücher wie jetzt etwa die „Bestsellerbibel“. Vier weitere Buchprojekte sind in Arbeit, unter anderem ein „Antikanon“ und ein Buch mit meinen persönlichen Lieblingslektüren. Daneben versuche ich gerade, ein neues Literarisches Quartett in den sozialen Medien zu lancieren. Aber da wird man zwangsläufig zum Fundraiser in eigener Sache, und das ist eine mühselige Arbeit.
Vielleicht fallen meine Urteile zu Coelho, Fitzek und Co. ja deshalb relativ harsch aus, weil ich diese Bücher tatsächlich gelesen habe
Wie wichtig ist Literaturkritik – außer für die Literaturkritiker und die Verlage?
Scheck: Dass der Literaturkritiker die Krone der menschlichen Evolution und die höchste Form menschlichen Daseins ist, darf ich wohl als unstrittig voraussetzen. Literaturkritik ist insbesondere in Deutschland inzwischen eine eigenständige Kunstform mit einer jahrhundertelangen Tradition. Für mich prägend waren immer Dorothy Parker, Alfred Kerr und Alfred Polgar sowie die Feuilletonkultur der Weimarer Republik, die insbesondere durch ihre gewitzte Formenvielfalt beeindruckt. Ich wünschte, sie wirkte für heutige Feuilletons stilprägend.
Leidenschaftliche Leser haben längst damit angefangen, Bücher über Bedarf zu kaufen und zu horten, weil sie befürchten, dass das gedruckte Wort ausstirbt. Haben Sie dafür Verständnis – und haben Sie einen Tipp, wohin mit den Büchern, wenn die Wohnung nicht mitwächst?
Scheck: Alle Versuche, Bücher kulinarisch zu verwerten, müssen als gescheitert betrachtet werden. Insofern kann ich nur empfehlen, von den in vielen Gemeinden verbreiteten Bücherboxen Gebrauch zu machen und zu hoffen, dass die derart ausgesetzten Bücher vielleicht doch noch Leser finden.
Bitte nennen Sie Ihren aktuellen literarischen Favoriten beziehungsweise den erste Anwärter für den Mülleimer.
Scheck: Christoph Ransmayr hat mich mit „Egal wohin, Baby“ wieder beeindruckt, ebenso Wolf Haas mit „Wackelkontakt“ und Julia Schoch mit „Wild nach einem wilden Traum“, dem Abschlussband ihrer Trilogie „Biographie einer Frau“. Hingegen lassen die neuen Bücher von Sebastian Fitzek und Peter Hahne am schon länger diagnostizierten Hirntod dieser Autoren wenig Zweifel aufkommen.
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