Es dauerte ein bisschen länger als üblich. Bevor Hansi Flick am Dienstagabend um kurz vor Mitternacht mit leerem Gesichtsausdruck das Podium des Pressekonferenzraums in den Katakomben der Schalker Arena betrat, hatte er noch ein paar abschließende Worte an seine Mannschaft gerichtet. Das 0:2 gegen Kolumbien, der verheerendes Abschluss eines völlig verkorksten Länderspiel-Dreierpacks, versetzte den DFB endgültig in die höchste Alarmstufe. „Wenn wir es auf den Punkt bringen, ist es in die Hose gegangen“, meinte ein angefasst wirkender Bundestrainer. Das kann man wohl so sagen.
Bevor Flick seine Sicht auf die deutsche Fußballkrise erläutern durfte und dabei seine letzten Reste an Zuversicht auf Besserung rhetorisch zusammenkratzte, hatten etliche Pushnachrichten auf den Handys schon davon gekündet, was die Stunde geschlagen hat.
Flick schließt Rücktritt aus
„Bild“, „RTL“, selbst das sonst nicht zum schnellen Scharfgericht neigende Fachmagazin „Kicker“, hatten in während des Spiels eilig zusammengeschriebenen Kommentaren unverhohlen Flicks sofortige Beurlaubung gefordert. Eine solche Weltuntergangsstimmung rund um die DFB-Elf gab es zuletzt in der fußballerisch dunklen Zeit Anfang der 2000er-Jahre.
Und Flick? Schloss persönliche Konsequenzen in Form eines Rücktritts aus, gestand aber auch ein, dass ihn die Schärfe der Kritik aus den Medien und von den Fans mitnimmt. „Natürlich ist es eine Situation für mich, die ich so in dieser Form noch nicht erlebt habe. Ich gewinne Spiele sehr, sehr gerne und ich hasse wirklich, zu verlieren. Die Argumente sind nicht auf unserer Seite“, sagte der Bammentaler nach dem nächsten Niederschlag.
Die Angst vor der EM-Blamage
An das Gefühl der Niederlage musste sich Flick in dieser verkorksten WM-Saison allerdings notgedrungen gewöhnen. In elf Partien verlor die DFB-Auswahl fünfmal bei drei Unentschieden und drei Siegen - gegen Oman, Costa Rica und Peru. Eine verheerende Bilanz für eine große Fußballnation mit den Ansprüchen Deutschlands.
Die Analogien zur Spätphase unter Flicks Vorgänger Joachim Löw liegen auf der Hand. Auch damals bekam der Bundestrainer nach einem WM-Fiasko mit Vorrunden-Aus eine weitere Chance - und konnte sie nicht nutzen. Das deutsche Team schied mit dem bereits schwer in der Kritik stehenden Löw bei der EM 2021 im Achtelfinale gegen England aus. Wiederholt sich die Geschichte unter noch brisanteren Vorzeichen? Von einer Blamage bei der mit viel Tamtam beworbenen Heim-EM würde sich der finanziell angeschlagene DFB nebst seinem sportlichen Flaggschiff so schnell nicht erholen. Der Ruf der deutschen Elite-Auswahl wäre wohl auf Jahre hinaus beschädigt.
Völlers Qualitätsfrage
Flick zeigte sich indes weiterhin davon überzeugt, dass er der richtige Trainer ist, um das Turnier im eigenen Land zu einem Erfolg werden zu lassen. „Ich habe gesagt, ich gehe kompromisslos im Juni diesen Weg. Ich kann mit den besten Spielern Deutschlands trainieren. Ich habe ein Superteam um mich herum. Mir macht es einfach auch Spaß, eine Mannschaft auf ein Turnier vorzubereiten“, sagte der 58-Jährige.
Geht es nach seinem direkten Vorgesetzten Rudi Völler, wird der Kurpfälzer dazu auch die Gelegenheit bekommen. Der DFB-Sportdirektor stellte sich trotz des medialen Orkans vor seinen Bundestrainer - und knöpfte sich in erstaunlichen Aussagen bei RTL stattdessen die Spieler vor. „Hansi Flick ist die ärmste Sau“, formulierte Völler - und stellte direkt danach die Qualitätsfrage. „Am Ende des Tages haben wir nicht die Qualität wie vor ein paar Jahren“, urteilte der Sportdirektor und stellte in Aussicht, dass im Herbst bei den Testspielen gegen Japan und Vizeweltmeister Frankreich einige Spieler nicht mehr dabei sein werden.
Ab September soll ein Stamm her
„Da fehlt es bei dem einen oder anderen an der Topqualität. Wir müssen dann so trainieren und taktisch aufstellen, dass wir trotzdem nächstes Jahr eine gute EM spielen. Ich weiß, das hört sich im Moment wie Durchhalteparolen an.“ Namen nannte Völler keine.
Auch Flick sprach davon, dass es ab September darum gehe, „einen Stamm von zehn bis 14 Spielern festzuzurren und zu benennen“. Es solle dann auch klar sein, wer auf den jeweiligen Positionen die Nummer eins sei. Die Zeit der personellen und der taktischen Experimente ist vorbei.
Gündogan seltsam wirkungslos
In der Mannschaft, die gegen bissige Kolumbianer auf ganzer Linie verunsichert wirkte, ist der Ernst der Lage zumindest angekommen. „Ich weiß nicht, ob bedenklich da reicht. Es ist dramatisch. Das muss man ganz klar so sagen“, meinte Leon Goretzka.
Und Manchester Citys Triple-Gewinner Ilkay Gündogan, gegen Kolumbien seltsam weit vorne platziert und deshalb wie so oft im DFB-Dress fast wirkungslos, fand offene Worte zum desolaten Zustand des DFB-Teams. „Wenn man es über einen längeren Zeitraum nicht schafft, dieses Potenzial auf dem Platz abzurufen, dann müssen wir irgendwann die Frage stellen, ob wir auch die Qualität haben, um hundertprozentig auf höchstem Niveau zu spielen“, sagte der 32-Jährige, in seiner Geburtsstadt Gelsenkirchen als Kapitän auf dem Platz.
Ein bitterer Befund, eine Aussage, die tief blicken lässt. Aber ein Befund, der die triste Realität beim Aushängeschild des deutschen Fußballs zutreffend beschreibt.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Krise bei der DFB-Elf: Flicks letzte Chance