Interview

Missstände im Turnen: Was am Stützpunkt Mannheim besser läuft

Die von einigen Turnerinnen öffentlich gemachten Missstände im Frauenturnen sorgen für Schlagzeilen. Jetzt äußert sich dazu Joachim Fichtner, Leiter des Bundesstützpunkts Mannheim.

Von 
Andreas Lin
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Joachim Fichtner an seinem Arbeitsplatz im Mannheimer Turnzentrum. © Fichtner

Die von einigen Turnerinnen öffentlich gemachten Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen sorgen seit Wochen bundesweit für Schlagzeilen. So beendete die Spitzenathletin Meolie Jauch ihre Karriere mit nur 17 Jahren, „weil es mental nicht mehr geht“.

Die frühere Topturnerin Tabea Alt schrieb: Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Heute weiß ich, es war systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch.“

Joachim Fichtner ist seit 2018 Leiter des Bundesstützpunkts Turnen in Mannheim, Sportvorstand der TG Mannheim und Vorsitzender des Fördervereins. Im Interview nimmt der 59-jährige Ketscher Stellung zu den Vorfällen, sagt aber auch, was in Mannheim schon alles unternommen wurde und was noch gemacht werden müsste.

Herr Fichtner, erst einmal vielen Dank, dass Sie sich unseren kritischen Fragen stellen. Seit einigen Wochen sorgen die Skandale im deutschen Kunstturnen für Negativschlagzeilen. Wie bewerten sie das?

Joachim Fichtner: Selbstverständlich sind auch wir schockiert von den vielen Veröffentlichungen ehemaliger Athletinnen. Von Mannheim aus haben wir nur wenig Einblick in das alltägliche Geschehen in der Stuttgarter Trainingshalle oder anderen Trainingsorten. Um ehrlich zu sein, steht uns da nicht zu, im Detail Stellung zu beziehen.

Solch ein Ausmaß war für uns trotzdem unvorstellbar
Joachim Fichtner

Aber es kann doch nicht sein, dass hier niemals etwas durchgedrungen ist?

Fichtner: Neben Chemnitz, Frankfurt und Stuttgart sind wir in Mannheim einer von nur vier Bundesstützpunkten im weiblichen Gerätturnen. Da entwickelt sich ja auch so etwas wie Konkurrenzdenken, welches nicht immer ausschließlich sportlicher Natur ist. Die Trainer treffen sich mit ihren Athletinnen regelmäßig bei Kaderlehrgängen. Natürlich wird da auch so einiges erzählt. Die Behauptung, ahnungslos zu sein wäre somit nicht ehrlich. Aber solch ein Ausmaß war für uns trotzdem unvorstellbar.

Angefangen hat es mit Meolie Jauch, die mit nur 17 Jahren ihre Karriere beendete und sich negativ äußerte. Danach folgte Emelie Petz und dann äußerten sich weitere ehemaligen Turnerinnen und lösten eine wahnsinnige Lawine aus . . .

Fichtner: Ja, dann kamen viele hinterher, wie Tabea Alt oder Michelle Timm und so ging es leider weiter. Ob dieser Weg der richtige ist, sei dahingestellt. Vermutlich sahen betreffende Athletinnen keinen anderen. Inzwischen nimmt das aber unüberschaubare Ausmaße an. Ohne zu hinterfragen, werden mit in ein und denselben Topf geworfen. Anstatt mal zu schauen, dass es auch positive Beispiele gibt, die längst einen andern Weg eingeschlagen haben.

Mit Zoe Meissner hat sich inzwischen auch einige ehemalige Turnerin des Mannheimer Bundesstützpunkts negativ geäußert . . .

Fichtner: Klar das war zu erwarten. Ich kenne sie und ihre Familie, weil sie nur wenig älter ist als meine Tochter. Unter Eltern gibt es immer viele Gespräche. Als ich dann 2018 Vorstand Sport bei der TG Mannheim wurde, beendete Zoe zeitgleich ihre Turnkarriere. Mit der Familie saß ich danach zweimal zusammen und wir haben über vieles gesprochen. Für den Gang in die Öffentlichkeit werde ich Zoe nicht verurteilen. Wenn es ihr hilft, ihre persönliche Enttäuschung aufzuarbeiten, ist das für mich okay. Da nun inhaltlich Stellung zu beziehen, fühlt sich nicht gut an und somit sollten wir das lassen. Das war alles vor meiner Zeit als Verantwortlicher. Wer mich kennt, weiß für was ich stehe und wer sich mit dem Mannheimer Stützpunkt beschäftigt, weiß wieviel wir seither verändert haben.

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Wie sind diese von den Turnerinnen angeprangerten Methoden zu erklären?

Fichtner: Vorweg - auch wenn wir hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, sollten wir klarstellen, dass es für die geschilderten Methoden weder Rechtfertigungen noch Entschuldigungen geben darf. Trotzdem ist die Historie wichtig, will man etwas ändern. Früher waren Ostblock- und asiatische Nationen das Maß aller Dinge. Die Methoden waren bekanntlich extrem. Diese Erfolge brachten Trainer nach Europa. Die Methoden machten leider auch hierzulande Schule. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts zeigen die USA, dass es auch andere Wege zum Erfolg gibt - mal abgesehen von Sexuellen- Missbrauch-Meldungen. Auch in Deutschland werden längst andere Werte vermittelt. Offensichtlich ist das noch nicht bei allen angekommen. Die heutige junge Trainer-Generation vertritt jedenfalls komplett andere Werte.

Sie sind eigentlich von Haus aus Fußballer und kamen dann über ihre Tochter mit dem Turnen in Berührung . . .

Fichtner: Ja ich kam von Elternseite und für mich als „bescheidener“ Fußballer war es am Anfang nicht einfach ernst genommen zu werden. Aber dieser Blick von außen war letztlich von Vorteil. Wenn du nicht aus diesem System kommst, siehst du ja, dass es Probleme gibt. Es gab damals schon merkwürdige Storys, die ich aber immer sehr ernst genommen habe.

Sie haben gesagt, dass am Stützpunkt Mannheim seit 2018 viel verändert wurde. Wie fing das an?

Fichtner: Meine erste Erkenntnis war: Wir brauchen dringend sportpsychologische Unterstützung. Mindestens einmal pro Woche in der Halle, beim laufenden Trainingsbetrieb und darüber hinaus für Workshops und vielen Einzelgesprächen mit Athletinnen, Eltern aber auch Trainern. Das war eine Schlussfolgerung aus vielen langen Gesprächen mit Turnerinnen und Eltern. So kam im Januar 2019 Laura Giessing zu uns und betreute die Bundeskaderturnerinnen ab elf Jahren und teilweise auch die noch jüngeren Landeskader-Mitglieder. Laura hat da echte Pionierarbeit geleistet. Zusammen mit unserer Cheftrainerin Alina Korrmann haben wir damals ein Konzept erstellt, mit den Schwerpunkten „Stärkung der Selbstfürsorge und Selbstregulation“, „Stärkung der sportlichen Leistung“ sowie „Schaffen eines wertschätzenden, lernförderlichen Klimas“.

Haben Sie damals dafür nicht sogar eine Auszeichnung bekommen?

Fichtner:

Fichtner: Ja wir haben den mit 2500 Euro dotierten dritten Preis der Robert-Enke-Stiftung bekommen. Das war schon eine geile Auszeichnung für so einen vergleichsweise kleinen Stützpunkt. Den bekommst Du ja nicht für ein paar schöne Bildchen oder nette Zeilen. Wir haben da auf deren Anfrage unser detailliertes Konzept eingereicht und dieses wurde von der Stiftung umfänglich hinterfragt und geprüft. Aber wir sind damals dafür von anderen Zentren und Verbänden belächelt worden. Da gab es schon merkwürdige Kommentare, die bei uns abwertend ankamen und die mich heute noch maßlos ärgern. Inzwischen ist Laura Giessing als Referentin an die Sporthochschule Köln gewechselt, hat aber selbst für hervorragenden Ersatz gesorgt. Mit Dr. Lisa-Marie Schütz von der Uni Heidelberg hatten wir den nächsten Glücksgriff landen können. Sie hat die Akzeptanz der sportpsychologische Betreuung an unserem Stützpunkt deutlich gefestigt. Nur mal so nebenbei: Unsere Sportpsychologin müssen wir zu 80 Prozent über unseren Förderverein finanzieren.

In der sportmedizinischen Betreuung haben wir uns über die Jahre hinweg ebenfalls super aufgestellt
Joachim Fichtner

Was haben Sie noch geändert?

Fichtner: Wir hatten damals relativ viele Verletzte bei uns. Auch das haben wir hinterfragt. Ein Punkt war, dass es damals keinen festen Orthopäden für unseren Stützpunkt gab. Wir sind dann zwei Jahre auf die Suche gegangen, um einen Sportmediziner zu finden, der sich schnell und unbürokratisch Zeit für unserer Athletinnen nimmt. Seitdem ist Dr. Korff aus Mannheim unser Stützpunktarzt. Das war ein riesiger Gewinn. In der sportmedizinischen Betreuung haben wir uns über die Jahre hinweg ebenfalls super aufgestellt. Es gab schon länger regelmäßige Physiotermine zur Prävention direkt in unserer Nachbarschaft. Nun kam eine Reha-Kooperation direkt nebenan hinzu. Unsere leitenden Trainer stehen da in stetigen Austausch und das Training wird mit allen aufeinander abgestimmt. Aber da brauchst du natürlich auch Trainer, die dafür offen sind und sich Zeit nehmen.

Und die habt Ihr?

Fichtner: Ja, uns war wichtig, dass unserer leitenden Trainerpositionen aus der jungen Trainergeneration besetzt werden. Alina Korrmann als Cheftrainerin steht da 100-prozentig dahinter. Ebenso Anna Kaletsch als leitende Trainerin unserer Turn-Talent-Schule. Die gehen da ganz anders ran, sind offen für Veränderungen, die in Topsportarten längst Standard sind. Zudem sind beide selbst lernbegierig und holen sich von erfahreneren Trainern viele Tipps, wenn es um die Umsetzung neuer Übungs-Elemente geht.

Stimmt es, dass Bundesnachwuchstrainerin Claudia Schunk häufig in Mannheim ist?

Fichtner: Richtig - sie wohnt in Altrip und hat zehn Minuten zu uns. Unsere Cheftrainerin war einige Monate in Mutterschutz und Elternzeit, da waren wir glücklich, dass Claudia zur Unterstützung mithalf. Gerade Claudia Schunk ist das beste Beispiel, dass man sich auch als erfahrene Trainerin neu erfinden kann und Werte umsetzt, die früher nebensächlich waren. Auch mit Claudia kommunizieren wir sehr viel und so erlaube ich mir diese positive Einschätzung.

Und wie arbeiten Sie mit den leitenden Trainern?

Fichtner: Als Führungsteam sind wir eng zusammengewachsen. Mir ist wichtig, dass ich auch immer mal wieder mit in der Trainingshalle bin, um zu sehen, wie die Trainer arbeiten. Wir kommunizieren viel. Besondere Situationen, die es in jeder Trainingshalle gibt, werden nicht ignoriert, sondern offen besprochen.

Könnten Sie sich vorstellen, dass es weitere Turnerinnen gibt, die sich negativ über den Mannheimer Stützpunkt äußern?

Fichtner: Bei allen Änderungen die wir vorgenommen haben: Es ist aus unserer Sicht noch viel, viel Luft nach oben. Wir werden uns da auch mit dem Erreichten nie zufriedengeben. Ob es ehemalige Athletinnen gibt, die noch was veröffentlichen, weiß ich nicht. Wer von sich behauptet, fehlerfrei zu sein, der hat sicherlich mit dieser eigenen Wahrnehmung einen sehr großen Fehler begangen.

Zur Person: Joachim Fichtner

  • Joachim Fichtner ist 59 Jahre alt , verheiratet und hat vier Kinder.
  • Er war viele Jahre Fußballtrainer bei der SG Oftersheim .
  • Seit 2018 ist er DTB/BTB-Standortmanager des Bundesstützpunkts Mannheim , Stützpunktleiter des Leistungszentrums Mannheim und Vorstand Sport des Trägervereins der TG Mannheim.

Als diese Thematik aufkam, hat das doch auch sicher bei euch am Stützpunkt für Unruhe gesorgt, oder?

Fichtner: Ja, natürlich. Ich kenne unserer Athletinnen und vor allem auch unserer Trainer. Mir war schnell klar, dass wir da Gesprächsmöglichkeiten schaffen müssen zur Aufarbeitung der ganzen Meldungen. So habe ich schon am zweiten Weihnachtsfeiertag mit unserer Sportpsychologin telefoniert. Lisa Marie hat trotz Urlaub schnell Vorschläge erarbeitet. Wohl dem, der solch eine perfekte Möglichkeit am eigenen Stützpunkt hat.

Was ist dann passiert?

Fichtner: Wir haben direkt Anfang Januar einen Workshop mit den Turnerinnen und einen mit den Trainerinnen organisiert – jeder hatte Redebedarf. Auch den Eltern haben wir Gespräche angeboten. Seitdem ist die Sportpsychologin in ständigem Austausch mit allen.

Gab es auch von außen Reaktionen – etwas von Partnern oder Förderern?

Fichtner: Ja klar, natürlich fragt jeder. Sponsoren wollen wissen, wie es weitergeht. Sicher überlegt da mancher, ob es etwas Negatives für ihn bedeutet, wenn er sich im Turnsport engagiert. Dabei müssten wir dringend mehr Werbepartner gewinnen. Zudem holen wir Wettkämpfe hierher, um Gelder zu generieren, die dafür verwendet werden, noch mehr in die Athletenbetreuung zu investieren und uns in allen Bereich noch viel besser aufzustellen. Die vom Bund über die Verbände finanzierten Fördertöpfe geben nicht mehr her. Dafür braucht es Partner, die darin einen Sinn sehen, sich zu engagieren.

Sie erwähnten ja bereits, dass da noch Luft nach oben ist?

Fichtner: Ja. Ich hoffe, dass wir vermitteln können, dass wir die Problematik früh erkannt und viele Verbesserungen umgesetzt haben. Aber wir könnten es noch viel besser machen, wenn mehr Förderer und Sponsoren da wären.

In femininen Sportarten ist Magersucht immer ein Thema. Da brauch es dringend Spezialisten zur Prävention, nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist
Joachim Fichtner

Was könnten sie damit bewirken?

Fichtner: In Abstimmung mit dem Badischen und dem Deutschen Turnerbund gibt es einige Pilotprojekte bei uns, zum Beispiel in der Trainerausbildung. Im Bereich Sportpsychologie müsste viel mehr passieren. In femininen Sportarten ist Magersucht immer ein Thema. Da brauch es dringend Spezialisten zur Prävention, nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Im medizinischen Bereich ist noch mehr Bedarf. Wir bräuchten ein Athletiktraining vor Ort, aber das können wir uns nicht leisten. Die Trainer brauchen eine noch bessere Ausbildung. Es bräuchte Ernährungsberater, die sich ständig individuell um jede Turnerin kümmern. Einfach mehr Spezialisten. Das sind Wünsche und Herausforderungen für die Zukunft.

Wie sehen Sie die Verbände in der aktuellen Situation?

Fichtner: Schwierige Frage. Ich bin vermutlich kein geduldiger Mensch, wenn es um dringend notwendige Neuerungen geht. Vor zwei Jahren habe ich zusätzlich die Aufgabe als Standortmanager übernommen. Dadurch arbeite ich für den BTB und somit eng mit dem DTB zusammen. Der BTB unterstütz uns extrem, sonst wäre vieles an unserem Stützpunkt nicht möglich gewesen.

Wie sehen Sie DTB Sportvorstand Thomas Gutekunst? Er kommt hier aus Brühl-Rohrhof?

Fichtner: Thomas kommt aus der Nachbargemeinde von mir. Wir kennen uns sehr gut und ich kennen seine Werte, die ihm sehr wichtig sind. Er hat uns jederzeit bei unserer Weiterentwicklung unterstütz. Daher ist mein Vertrauen in ihn und seine direkten Mitarbeiter groß. Es ist nicht einfach, alle festgefahrene Pfade in solch einem System aufzubrechen. Mir ging das erstmal im Kleinen ähnlich, an unserem Stützpunkt in Mannheim.

Redaktion Stv. Redaktionsleiter + Lokalsportchef Schwetzinger Zeitung

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