Berlin. Als ihn die Fernsehkamera am Samstagabend auf der Haupttribüne des Berliner Olympiastadions hinter dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan entdeckte, war ich, ja was war ich eigentlich? In erster Linie traurig, beschämt - und ein bisschen wütend. Mesut Özil war einer der besten deutschen Fußballer seiner Generation, Weltmeister 2014, seine Pässe in die Schnittstelle ein Genuss, eine lebende Legende. Was in den vergangenen Jahren geschehen ist, bestürzt mich jedoch.
Wer sich für Fußball interessiert und auf der Suche nach einem hörenswerten Podcast ist, dem sei „Schwarz Rot Gold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden“ ans Herz gelegt. Der Achtteiler zeichnet Özils Leben nach. Wie er aus bescheidenen Verhältnissen in Gelsenkirchen kommend, aber mit außergewöhnlichem Talent gesegnet deutscher Nationalspieler und Profi bei Real Madrid wurde. Wie ihn die Politik als Posterboy für Integration in Deutschland vereinnahmte - und wie ein Foto alles veränderte.
Legendäre Abrechnung mit dem DFB
Vor der WM 2018 ließ sich Özil mit Erdogan ablichten. Die Türkei war damals auf dem Weg von einer Demokratie in eine Autokratie, die mediale Aufregung riesig. Während Ilkay Gündogan - damals auch auf dem Bild - die Affäre mit ein paar Kratzern überstand, bekam Özil die volle Breitseite ab. Erst recht, nachdem die DFB-Elf das Turnier in Russland in den Sand setzte. Vorrundenaus - als Weltmeister.
Özil trat kurz danach aus der Nationalmannschaft zurück und keilte in seinem Abschiedsstatement gegen die DFB-Führung aus. Niemand habe sich vor ihn gestellt, ihn öffentlich unterstützt. „Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland spielen, solange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre“, schrieb Özil. Es war der Ausgangspunkt eines Abstiegs. Sportlich, weil seine Vereine immer unbedeutender wurden. Persönlich, weil er immer weiter in eine politische Gedankenwelt abdriftete, die mit den Werten von Demokratie und Rechtsstaat nichts mehr zu tun hat.
Erinnerungen an 7:1-Gala im WM-Halbfinale 2014
„Einsamer Wolf“ heißt die letzte Folge des Özil-Podcasts. Und so sah unser Mesut ehrlich gesagt auch auf der Tribüne des Olympiastadions neben Erdogan aus. Verloren zwischen zwei Welten, keiner so richtig zugehörig. Aus dem Integrationsvorbild ist ein Mann geworden, der sich ein Tattoo der rechtsextremen türkischen Bewegung „Graue Wölfe“ stechen lässt. Es ist so bitter.
Ach, Mesut, möchte ich ihm zurufen. Was hat dich bloß so ruiniert? Vielleicht schaue ich mir demnächst noch einmal das intergalaktische 7:1-Halbfinale bei der WM 2014 gegen Gastgeber Brasilien mit Özil an. Um zu versuchen, die Bilder unseres gefallenen Fußball-Helden mit Erdogan in Berlin zu überschreiben.
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