Patienten zweiter Klasse

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Sie sehe heute so richtig „kotig“ aus, sagt Bela zu Caro. Offenbar will er das Sch …-Wort vermeiden, weil es schlecht zu Rachmaninow und seinem neuen – mein Gott, gibt mir eine Sonnenbrille – in Orange glühenden Fred-Perry-Pulli passt. „Ich bringe heute jemanden um“, meint Caro und schlägt auf den Tisch, dass die Teller scheppern. Was ist da los?

Also: Caro hat versucht, beim Kardiologen einen Termin zu kriegen. „Ich muss da hin. Herzrhythmus. Die MFA am Telefon hat zuerst gesagt, ich kann gleich morgen Früh vorbeikommen. Okay, das fand ich cool. Dann hat sie mich gefragt: ,Sie sind aber schon privat versichert?’Ich sagte: ,Nee!’ Dann meinte sie doch, sie hat den nächsten Termin erst im April. Ich sag’s euch: Ich bringe heute noch jemanden um!“

„Du denkst da nicht zufällig an Karl den Großen?“, meint Bela – und Alya, schwanger und selig, kichert leise vor sich hin. Wie es so meine Art ist, will ich meinen Senf natürlich auch dazugeben. Deutschland sei nun mal voller Widersprüche, sage ich, Hightech stehe bei uns eben neben Mittelalter und grottenschlechten Mobilnetzen, größter Reichtum neben Elend, in fast allen Schulen des stolzen, reichen Landes angeblicher Dichter und Denker bröckle der Putz von der Decke, hier wolle jeder fliegen aber keinen Fluglärm und alle Bahnen kämen zu spät. „Wenn sie kommen“, sage ich, „gestern stand ich in der Großstadt Mannheim 40 Minuten an der Haltestelle, wo doch der zuständige Bürgermeister gesagt hat, man gehe in den 20-Minutentakt, weil dann wenigstens garantiert werden könne, dass die Bahn auch fährt. Haha. Worüber wundert ihr euch noch?“, sage ich, „wir sind längst zweitklassig.“

„Nanana“, sagt Bela jetzt, „uns geht’s doch noch einigermaßen.“ „Nein“, faucht Caro, sie habe jetzt noch 130 Tage bis zu ihrem EKG-Termin – wenn sie noch so lang lebe. „Du musst halt zum Hausarzt vorher, der kann dir die Dringlichkeit bescheinigen!“, so Bela.

Ich denke, es kann doch nicht sein, dass wir in diesem ach so modernen Land immer noch ein duales Gesundheitssystem haben: eines mit Solidarprinzip und eines für Egoisten, die, obwohl sie mehr Geld haben, meist weniger bezahlen und dann auch noch mehr Leistung kriegen. Wenn ich Karl der Große wäre (und damit meine ich nicht Karl Lagerfeld), dann würde ich das als Erstes ändern – gleich nach Abschaffung der von mir höchstpersönlich mitverantworteten Fallpauschale. Das duale System Privilegierter und Idioten wirkt exponentiell. Denen, die es eh schon schwerer haben wegen des Geldes, wird es noch schwerer und in der Arztpraxis deutlich gemacht, dass sie Menschen zweiter Klasse sind. Wofür stand SPD doch gleich? Jetzt haben wir einen SPD-Kanzler und -Gesundheitsfuzzi – worauf warten die noch?

„Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität steht im Hamburger Programm der SPD“, sage ich nun, „okay, Freiheit und Gerechtigkeit standen sich schon immer im Weg. Aber die Solidarität hat nun mal nichts mit Solomentalität zu tun, sondern mit einer ethisch-politischen Haltung der Verbundenheit.“ „Darf ich dich knutschen?“, fragt Caro. Ääääähhh …

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