Kolumne #mahlzeit

So will Alya das ungeborene Leben in ihrem Bauch schützen

Sie hat dem Alkohol abgeschworen, will sich im Denken der Sober-Curiosity-Bewegung nie wieder berauschen. Kolumnist Stefan M. Dettlinger glaubt Alya aber nicht und meint: "Alya iacta est: Sag' niemals nie!"

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Alya hat beschlossen, überhaupt keinen Alkohol mehr zu trinken. Sie sagt: „Nie wieder!“ Ich sage: „Sag’ niemals nie!“

Klar, sie ist schwanger. Es ist ja auch so, dass alle, selbst Mediziner, sagen, Alkohol gefährde die Gesundheit ungeborenen Lebens. Also ich bin mir sicher, dass meine Mutter ein bisschen was getrunken hat damals, als ich in ihrem Bauch mit verbissener Vehemenz mein Ziel (endlich raus hier) verfolgt habe. Ich bilde mir ein, dass der Alkohol in ihrem (also meinem) Blut anno 1965 das monatelange Eingesperrtsein und Warten in unendlicher Dunkelheit etwas erträglicher gemacht hat. Okay, ich erinnere mich nicht wirklich. Vielleicht sollte ich mal zu so einem Hypnose-Onkel gehen, mit dem ich die 57 Jahre zurückreise, um den Trip noch mal zu erleben.

Ich finde halt diese Mentalität heute seltsam: Die einen sagen „kein Fleisch“, andere „keine Kinder“ oder „kein Sex“. Immer geht es ums Extrem, das Radikale, die Exklusivität. Das trennt die Gesellschaft. Es gibt heute: kein Auto, keine Tierprodukte (inkl. Schuhe aus Leder), keine Haare, kein Fliegen, keine Falten, keine Frauen, kein Gott, kein Nikotin, keine Kultur, kein Bio, keine WM, keine Religion, kein Handy, kein Internet, no risk, no fun und so weiter.

Alya meint ja, sie könne sich jetzt in der Nüchternheit berauschen (hihi). In ihrer Schwangerschaftsgymnastik hat sie da so eine indoktrinierende Studentin kennengelernt, die hat sie mit Infos zur Sober-Curiosity-Bewegung bequatscht. Wieder so eine Mode! Die Typen (und Typinnen) sind neugierig darauf zu erfahren, wie es ist, nüchtern zu sein (endlich mal) und führen tatsächlich Geistesgrößen wie Friedrich Nietzsche in Werbe-Slogans an. Oder Karl Kraus mit seinem Spruch: „Was sind alle Orgien des Bacchus gegen die Räusche dessen, der sich zügellos der Enthaltsamkeit ergibt!“ Zügellos brav sein in einer schönen neuen Welt. Aha!

Also ehrlich: Das ist nichts für mich. Das finde ich langweilig. Ein bisschen Gesellschaft von Dionysos kann der Apollon in mir schon gebrauchen – ja, die Zwei sollten ab und zu auch mal ’nen Joint rauchen. Wenn es verboten ist: Umso besser! Der Rausch immunisiert uns doch gegen den fürchterlichen Andrang der Welt dort draußen, mit Hass, Krieg und stupid hupenden SUV-Fahrern auf Radwegen, er verschafft uns als Subjekt auch die Chance einer Entgrenzung innerhalb der Rauschreduktion. Das Resultat ist fantastisch: künstliche Paradiese, die es ohne Rausch nie gegeben hätte. Unter uns: Die Kreativität eines Platon, eines da Vinci, Monteverdi und Beethoven oder die Erfindung des Heiligen Geistes durch die Autoren des Tanach oder der Testamente – die hätte es nie gegeben, wenn die nach der Sober-Curiosity-Philosophie gelebt hätten.

Ich glaube nicht, dass Alya das schafft. Ich mag sie echt gern, aber ich denke, das alles ist ein Lippenbekenntnis wie bei diesem einen britischen Staatschef. Der heftig Zigarre qualmende Winston machte nämlich entgegen dem ihm zugesprochenen Spruch „No Sports“ zeit seines Lebens fleißig Leibesübungen. Ich sage: „Alya iacta est: Sag’ niemals nie!“ Sie darauf: „Elender Besserwisser!“

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