Alya, die mir direkt gegenüber sitzt, hat trotz der nicht ganz so warmen Witterung einen knappen transparenten Pulli an, unter dem man – nun ja, sie sitzt nun mal direkt gegenüber – so einiges sieht. Um es vorsichtig auszudrücken. Seit sie schwanger ist, lässt sie ihrer Weiblichkeit ungezügelter freien Lauf. Es scheint ihr egal, ob man bei ihr Körperteile sieht, die andere auf keinen Fall jemandem zeigen wollen. Ich finde das erstaunlich. Ich weiß: Manche fordern das oberteillose Baden für Frauen in Schwimmbädern. Meine Güte: Sollen sie halt. So lange es nicht zur Pflicht wird. Ich frage mich nur, wie das dann so ist, wenn die barbusig in der Currywurstschlange stehen und Kinder – den Blick exakt in Brustwarzenhöhe – da eben auch eine Wurst mit Pommes wollen. Eigentlich ist es mir egal. Das ist nur ein Ding.
„Hallo?“
Ein anderes ist: Ich bin gewiss vollkommen für die Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Emanzipation der Frau und überhaupt aller anderen Geschlechter. Mensch ist Mensch. Basta. Aber aufreizende Hotpants, rücken- und bauchfreie Tanktops, ultrakurze Miniröcke, durchsichtige Kleider, Posen mit abgespreizten Extremitäten und synchronem Killerblick von Models oder Popstars als Selbstbestimmung der Frau zu verkaufen – sorry, da gehe ich nicht mit. Das ordne ich ein als Sich-ins-böse-Sex-sells-System einfügen und damit doch wieder seinen Körper zu verkaufen. Mann: Das! Ist! Prostitution!
„Haaaallooooo!“
Man muss nur Magazine durchblättern (und es müssen gar nicht Pornos wie „Penthouse“, „Playboy“ oder der „Stern“ sein) und sich die spärlich bekleideten Frauen in der Werbung ansehen, die Männer verlocken, Produkte zu kaufen. Autos. Rechner. Bohrmaschinen. Sofas. Rasenmäher. Dinge also, die in direktem Zusammenhang mit dem weiblichen Körper stehen (das war Ironie!). Egal. Ich frage mich, warum Frauen – also Models, die Frauen sind – sich im Bikini für Slogans ablichten lassen wie: „Mit der Figur brauche ich kein Abitur“. Warum, liebe Teile der XX-Chromomenwelt? Ich will Antworten.
Ich denke dabei auch an unsere Kinder: Werbung gibt doch gesellschaftliche Rollenbilder weiter, sie zeigt der jungen Generation, wie Frauen und Männer angeblich zu sein haben. Auch über Männer ließe sich einiges schreiben. Das sähe nicht besser aus. Auf andere Art. Wir lassen das mal für heute.
„Haaaaaaallllooooooo!“
Selbstbestimmung ist etwas Großartiges. Man muss nicht Philosoph sein wie Immanuel Kant, der meinte, sie unterscheide Tier und Mensch. Aber wenn ich mir die ganzen Nacktheiten ansehe, frage ich mich schon, wo da noch der Unterschied ist. Die Frauen entledigen sich da selbst jener Würde, die uns der erste Satz der Verfassung zugesteht.
„Haaaaaaaaalllllooooooooo“, höre ich Alya aus der Ferne. „Äh, ja, was?“, antworte ich. „Was ist mit dir?“, fragt Alya in ihrem knappen transparenten Pulli. „Och, äh, du, ich war nur so in Gedanken – die Arbeit, du weißt schon.“
Vielleicht bin ich auch einfach nur ein weißer, prüder, alter Sack, der die Welt nicht versteht.
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