Musiktheater

"Anatevka" im Nationaltheater Mannheim: Denn diese drei Jüdinnen wissen, was sie tun

Mit „Anatevka“ präsentiert das NTM in der Alten Schildkrötfabrik auch ein wohltuendes Gegenstück zur Intellektualität, wie sie Theaterkunst (auch im NTM) zuhauf pflegt - mit riesigem Erfolg

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Sie sollen verheiratet werden und wollen doch selbst entscheiden: Rebecca Blanz (Hodel), Henriette Blumenau (Zeitel) und Nataliia Shumska (Chava). © Christian Kleiner

Mannheim. Und das ist jetzt also keine kulturelle Aneignung? „Kulturelle Aneignung bedeutet, dass Menschen einer dominanten Kultur etwas von einer anderen Kultur, einer ,Minderheitenkultur’, leihen oder nehmen, ohne Genehmigung und ohne dass diese etwas mit ihr zu tun hätten“, sagte Mannheims Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete unlängst dieser Redaktion. Es ging um die Causa AWO-Tänzerinnen. Sie benutzten die Stilelemente oder Kulturgüter, so Brokowski-Shekete weiter, wandelten sie um, verwässerten oder löschten ihre Bedeutung.

Mannheim. Schildkrötfabrik. In Schwarzweiß gekleidete Menschen (Justina Klimczyk) bevölkern die weiße Bühne (Robert Schweer). Sie tragen lange Kleider, zu kurze Hosen, teils Schuhe ohne Socken, die Frauen fast uniform zusammengestecktes Haar, die Männer Kippa oder Hut, die jungen, freiheitssüchtigen gern auch mal eine Art Pudelmütze.

Konvention gegen Revolution

Das Setting ist klar: Es handelt sich um eine arme jüdische Gemeinde, genauer: um die Bürgerinnen und Bürger von „Anatevka“, ein Fantasieort in Russland am Vorabend der Revolution von 1905 (der nach dem Überfall auf die Krim 2014 tatsächlich in der Nähe von Kiew gegründet wurde). Und wenn in einem schmissigen C-Dur-Klezmer gleich anfangs typisch phrygisch die „Tradition“ besungen wird, ist die Exposition dieses Musicals gesetzt: Es geht um eine Gratwanderung zwischen (jüdischer) Konvention und (jugendlicher) Revolution, zwischen situativer Komik und der Tragik geplanter Pogrome, zwischen jüdischem Witz und zu Herzen gehender Traurigkeit.

"Anatevka" in Mannheim

  • Das Stück:Anatevka“ (Fiddler on the Roof) ist ein Musical von Jerry Bock (Musik), Joseph Stein (Buch) und Sheldon Harnick (Lyrics). 1964 uraufgeführt basiert es auf Geschichten von Scholem Alejchem.
  • Die Handlung: Milchmann Tevje – träumt in der fiktiven Stadt Anatevka davon, wie es wohl wäre, wenn er sein Brot nicht mit schwerer Arbeit verdienen müsste und sich stattdessen mit Büchern und Schriften befassen könnte (Lied „Wenn ich einmal reich wär“). Auch das Glück seiner Familie, besonders der Töchter Zeitel, Hodel und Chava liegen ihm am Herzen. Doch die Vorstellungen vom Glück (und der zu heiratenden Männer) sind verschieden.
  • Die Termine: 16., 18., 21., 23., 25. und 26. Juli (immer 19.30 Uhr, nur am 23.7. um 15 Uhr). Dann wieder ab 16. März 2024.
  • Info/Karten: 0621/1680 150, nationaltheater-mannheim.de

 

Kulturelle Aneignung ist das nun deswegen nicht, weil den Stoff ein Jude ersann, Scholem Alejchem, und ein anderer das Libretto verfasste: Joseph Stein. Vielleicht ist Theater aber auch immer (kulturelle?) Aneignung, ja, lebt ja genau davon? Zudem tut Regisseur Markus Bothe vieles, um hier bunte Folklore zu vermeiden. Karg, clean, kühl und klar ordnet er die weiße und um das kleine Ensemble von 13 Musizierenden laufende Bühne inmitten der Schildkröthalle an. Eine gute Entscheidung, in dem länglichen Raum nun die Musik und das Geschehen ins Zentrum zu rücken und die Zuschauerränge aufzuteilen - man fühlt sich ein bisschen wie in einer Arena. Lediglich 13 Tische dienen als Kulisse. Sie sind Sitz, Rückzugsort, Haus und Symbol für An- oder Abwesenheit in Objektunion. Wer dieses Dorf verlässt, dreht seinen Tisch um und verlässt damit auch die Herzen der Gemeinde.

Tevjes Tochter Zeitel, gespielt von Henriette Blumenau, zusammen mit Mutter Golde (Chantal Le Moign) und Claudia Renner (Jente), Gerda Maria Knauer (Rifka) und Susanne Scheffel (Schandel). © Christian Kleiner

Dort findet sie also statt, die Suche nach den geeigneten Männern für Tevjes Töchter. Die Tradition will, dass diese Aufgabe die Heiratsvermittlerin Jente übernimmt, doch Zeitel, Hodel und Chava wissen sich, was Liebe und Lover angeht, schon selbst zu helfen. Sie wissen, was sie zu tun haben. So kriegen sie ihren konservativen, aber nicht herzlosen Vater alle rum - außer die Jüngste, Chava, die (ausgerechnet) den russischen Christen Fedja (Bene Greiner) heiraten will. Bei der Religion hört der Spaß aber auch bei Tevje auf. Chava verlässt Anatevka gegen Vaters Willen. Und seine Frau Golde? Die hat ohnedies nichts zu melden.

Pogrombilder flackern auf

Man kann Jerry Bocks Musical als tragikomische, aber scharfe Kritik an den verkrusteten Bräuchen des Judentums lesen. Und so zeigt Bothe es auch. Die Verortung ist eindeutig, und wenn gegen Ende der Wachtmeister (Thomas Jesatko), wie immer durch die Papierwand brechend, auftritt und ankündigt, Anatevka sei binnen dreier Tage zu räumen, flackern automatisch Katastrophenbilder wie die Pogrome des Zarenrussland und später der Nationalsozialisten im Kopfkino auf. Doch das Verrückte an diesem Stück (und Abend) ist, dass „Anatevka“ trotz der Distanziertheit und des ans epische Theater erinnernden „Ist-ja-nur-Theater“-Habitus’ immer wieder mit großer Rührung am Kitsch vorbeischrammt, ja, auch hartgesottene Theaterfans jäh nach dem Taschentuch greifen lässt.

Aber Emotionen soll Theater ja wecken, verständliche Storys für alle erzählen. Insofern ist „Anatevka“ auch ein wohltuendes Gegenstück zur Intellektualität, wie sie Theaterkunst (auch im NTM) zuhauf pflegt.

Dominik Maringer (Mottel), Silvester von Hößlin (Perchik), Karl Adolf Appel (Motschach), Klaus Brömmelmeier (Tevje), Thomas Berau (Lazar), Daniel Wagner (Mendel), Uwe Eikötter (Rabbi) und das Nationaltheater-Orchester. © Christian Kleiner

Dass der Abend unter der Leitung von Jürgen Goriup auch noch ein musikalischer Glücksfall ist, wird ihn zum (jetzt schon ausverkauften) Renner machen. Zwar ist die Mixtur des Bühnenpersonals aus Opern-, Schauspiel- und Musicaldarstellenden gewöhnungsbedürftig, aber sie funktioniert und bringt - neben vielen Gästen - in Zeiten der Sanierung und tendenzieller Unterbeschäftigung einiger eben auch ein bisschen NTM-Personal auf die Bühne.

Dennoch brillieren natürlich vor allem die spezialisierten Gäste, allen voran Klaus Brömmelmeier als Tevje. Er trifft die Tiefe des immer wieder zu Gott betenden Juden genauso wie die aberwitzige Seite seiner Figur - und den einzigen Hit, „Wenn ich einmal reich wär’“, legt er unkonventionell intim an. Selbst das ungleiche Schwesterntrio aus Schauspielerin Henriette Blumenau (Zeitel) und den Opernsängerinnen Rebecca Blanz (Hodel) und Nataliia Shumska (Chava) wird am Ende des „Jente, O Jente“ trotz ungleicher Stimmen zum anschmiegsamen E-Dur-Dreiklang. All die anderen, es sind 16 Figuren, funktionieren bestens, allen voran freilich auch Dominik Maringer als Fiedler Mottel, der sogar gut Geige spielen kann.

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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