Kolumne #mahlzeit

Ich wünsche mir für 2024 ein Verbot der Rechthaberei

Wenn es so etwas wie annähernde Wahrheit gibt, dann ist Rechthaberei ihre größte Feindin, konstatiert unser Kolumnist Stefan M. Dettlinger und wünscht sich für 2024, dass man die Rechthaberei verbietet - außer ihm natürlich

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen, wenn sie auf eine Meinung stoßen, die ihnen fremd ist, aufgeregt reagieren. Manche werden dann plötzlich hysterisch. Manche fangen an zu schreien. Manche entwickeln in ihrer Fassungslosigkeit sogar unfassbare Energien – und schreiben mir eine Mail.

Ich kann gar nicht verstehen, dass andere Menschen eine andere Meinung haben als ich. Ich meine, ich bin kein Rechthaber und unfehlbar oder so, aber warum sollten andere anders denken als ich? Es gibt keinen Grund. Und falls das doch mal (durch ein Missverständnis) passieren sollte, gibt es immer noch keinen Grund, sich aufzuregen. Es ist ja noch Zeit, dass alle ihre Meinung an meine Meinung angleichen. Also schön nachsprechen: „Wahrheit sag ich euch, Wahrheit und immer Wahrheit, versteht sich: Meine Wahrheit; denn sonst ist mir auch keine bekannt.“ Das ist (mein) Schiller.

Ich habe – Scherz beiseite – den Eindruck, je stärker die Rechthaberei zu den Wesenszügen eines Menschen gehört, desto öfter ist sie mit Unwahrheit verbunden. Weil die Rechthaberin vor allem Recht haben will, ist ihm jedes Mittel recht. Wie bei Putin: Ohne tatsächlich zu lügen, glaubt er am Ende, was er da sagt.

Viele Rechthaberinnen und Rechthaber schauen auch auf das Unrecht der anderen, ohne das eigene zu sehen. Bisweilen scheint es mir fast zu sein wie in der Bibelstelle mit Jesus und der Ehebrecherin: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Ich will das mal an einer persönlichen Erfahrung erklären: Einmal bin ich (böser Bube) ein kleines Stück mit meinem Rad über den Gehweg gefahren. Ich weiß, das ist verboten. Aber es war sehr praktisch, und ich habe niemanden gefährdet. Da schnauzte mich plötzlich eine Frau übel an, die sich bei ihrem Gang zum Geldautomaten gestört fühlte. Ich akzeptiere das. Ich habe ja auch einen Fehler gemacht. Als ich aber noch zehn Meter weiter fuhr, wurde mir klar, dass genau diese Frau mit ihrem fetten BMW (Marke von der Redaktion geändert) den Gehweg zum Parken benutzte – und bei laufendem Motor schnell an ihr Cash wollte.

Wer hat hier das größere Unrecht begangen? Das war für mich wie Johannes 8, 3. Sie sah mein Unrecht. Ihres nicht. Sie parkte ihr dickes Teil auf dem Gehweg! Das ist, als würde ich auf der A 8 mein Zelt aufstellen. Okay, der Vergleich hinkt ein bisschen.

Wahrheit ist ein weites Feld. Es ist die Frage, ob es sie überhaupt gibt, oder ob sie am Ende immer noch ein paar Promille Subjektivität enthält. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte ja schon, dass es nicht die eine objektive Wahrheit geben kann. Ich frage mich manchmal, ob es möglich ist, dass eines Tages ein Typ dahergelaufen kommt, eine Art zweiter Kopernikus, der sagt: Leute, was wir seit 1543 glauben, dass die Erde um die Sonne kreist, ist Quatsch, vielmehr …

Also wenn es so etwas wie annähernde Wahrheit gibt, so ist Rechthaberei ihre größte Feindin. Ich wünsche mir für 2024 jedenfalls im Sinne einer größtmöglichen Wahrheit, dass Rechthaberei verboten wird. Außer mir.

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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