Kolumne #mahlzeit

Wie ihr mich lieben lernt und alle andern auch

Kolumnist Stefan M. Dettlinger findet, so kurz vor Weihnachten, sei es an der Zeit, den Lesenden zu danken. Er wolle auch mal lieb sein und dankt denen, die ihn seit langem auf dem schwierigen Weg des Seelenstriptease begleiten

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Vielleicht ist ja jetzt, so kurz vor Weihnachten, ein idealer Moment, um – mit einigen Tränen in den Augen – meinen vielen lieben Lesern und Leserinnen zu danken. Ich will ja auch mal lieb sein: Ihr seid echt toll. Danke! Viele von euch (das Sie wird eh demnächst vom Rat für Deutsche Rechtschreibung gecancelt) begleiten mich seit langem auf meinem steinigen Weg, der mir manchmal vorkommt wie das Abenteuer Odysseus’ in der Meerenge von Messina zwischen den Seeungeheuern Skylla und Charybdis . Ich meine das in vielerlei Hinsicht: Wie viel gibt man von sich preis? Als Kolumnist ist man ja jemand, der sich in aller Öffentlichkeit seelisch auszieht bis auf die Boxershorts. Das ist Seelenstriptease. In nunmehr über 180 Folgen hattet Ihr dort draußen also Gelegenheit, mein Gedanken- und Seelenleben zu röntgen (womöglich gibt es Psychiaternde, die mich längst einweisen wollen).

Doch im Gegensatz zu den elektromagnetischen Wellen mit Quantenenergie des Tüftlers Wilhelm Conrad Röntgen gibt doch ein Mensch, also Du, bei allem seinen subjektiven Senf dazu. Das fand ich in all den Jahren sehr interessant, weil es mir vor Augen geführt hat, wie bestimmte Dinge gelesen werden, je nachdem, wer sie liest. Ich weiß, wovon ich spreche: Ich war gleichzeitig antisemitisch und islamophob! Manch einer meinte auch, mein Hirnkästchen sei vielmehr ein kleiner Holzbau für Meisen. Dabei bin ich, so weit ich weiß, nicht im Besitz eines solchen Tiers. Neulich schrieb mir eine oder einer – ich liebe anonyme Briefe, grrr –, ich hätte einen miserablen Charakter. Er kopierte mein Konterfei und malte mir ein Hitlerbärtchen dran. Da frage ich mich schon: Wer von uns beiden hat den miserablen Charakter?

Die meisten von euch aber, und dafür bin ich dankbar, zensieren mich im kolumnistischen Zeugnis regelmäßig mit Einsen, Zweien und, okay, manchmal kriege ich auch eine Drei – bisweilen auch mit dem Zusatz, mein Betragen lasse zu Wünschen übrig. Damit muss ich wohl leben.

Der Typ, der vor 2023 Jahren in Betlehem geboren worden sein soll, sagte auf einem Berg, so meint Matthäus: „Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.“ So schließe ich nun die Augen, versuche ganz doll den Typen zu lieben, der mir einen Hitlerbart anmalte, hoffe, dass er so reich ist, dass er sich Urlaub auf den Seychellen leisten kann und warte, dass der Vater zu mir sagt: „Mein Sohn, falls du mal bei mir vorbeischaust: Wie wäre es dann mit einer Partie Tennis? Lust?“ Und auch, wenn mir die Bälle, mit denen Gott spielt, zu groß sind, würde ich sagen: Klar! Merkur würde ich vielleicht noch schaffen, aber schon Venus wäre mir zu groß und vor allem: to hot!

Wahrscheinlich schreiben mir jetzt ein paar von Euch, mir würden langsam die Ideen ausgehen. Auch Euch versuche ich zu lieben. Ihr seid klasse! Aber ich bin mit meinen Freundenden Alya, Bela und Caro nun mal keine KI, die, egal, welches Wetter gerade ist, einfach produziert. Frohe Weihnachten also. Seid gut zueinander!

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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