Über ein Phänomen unserer Zeit Die Tarnung im Ohr

Katja Bauroth über diverse Begegnungen im Alltag

Veröffentlicht
Kommentar von
Katja Bauroth
Lesedauer

Es ist ein Phänomen, das mittlerweile so allgegenwärtig ist wie vegane Schuhe und genauso mysteriös wie das Verschwinden von Socken in der Waschmaschine: die Selbstgespräche von Menschen in Straßen, Geschäften, Fitnessstudios, ja sogar am Badesee. Ist Ihnen das nicht auch schon passiert: Sie schlendern durch Straßen oder einen Park und hören plötzlich eine Stimme, die scheinbar aus dem Nichts zu Ihnen spricht? „Und dann hat sie den auch noch so übel abgewimmelt ... ?“ Ähm, wie bitte? Wen hab’ ich abgewimmelt? „Ja, unmöglich, und dann auch noch die Klamotte ...“ unkt es weiter. Ich schaue verunsichert an mir hinunter. Was hat der denn gegen das Kleid? Das sind solche Momente, in denen ich zwischen Verwirrung und Entsetzen wanke. Die Gedanken kreisen: Soll ich jetzt reagieren oder nicht?

Die Stimme – ein junger Mann – läuft vorbei und quasselt weiter von einem Treffen, bla bla bla. Stimmt was nicht mit dem, ist mein nächster Gedanke.

Letzteres werde ich wohl nicht herausfinden. Was ich jedoch in 007-Manier entlarvt habe, ist der vermeintlich imaginäre Gesprächspartner des jungen Mannes. Der saß direkt in dessen Ohren – in Form von Minikopfhörern. Diese unsichtbaren Ohrstöpsel, über die in Verbindung mit dem Smartphone oder der Smartwatch Telefonate geführt beziehungsweise Musik und Podcast gehört werden können, sind sicher eine tolle Errungenschaft.

Doch machen sie nicht auch irgendwie einsam? Der Mensch mit den Miniknöpfen im Ohr blendet ja seine direkte Umwelt aus und zieht sich in sein eigenes Schneckenhaus zurück, so empfinde ich das. Wo bleibt da denn der Sinn fürs Hier und Jetzt? Und: Passanten wie ich werden zum einen ungewollt in eine Nebenrolle eines Dialogs gedrängt – und zum anderen auch zum ungewollten Zuhörer. Mich hätte ja schon interessiert, wer hier wen abgewimmelt hat und auch das Outfit, das so unmöglich schien.

Mehr zum Thema

Zum Nachdenken Der Muttertag, ein Phänomen

Veröffentlicht
Kommentar von
Katja Bauroth
Mehr erfahren

Kommentar Warum Beyoncé für Schwung bei den Buffalo's in Brühl sorgen kann

Veröffentlicht
Kommentar von
Katja Bauroth
Mehr erfahren

Kommentar Motivbank in Schwetzingen: Homo destructor

Veröffentlicht
Kommentar von
Katja Bauroth
Mehr erfahren

Doch keine Sorge, wenn Sie das nächste Mal das Gefühl haben, Teil eines Gesprächs zu sein, an dem Sie gar nicht beteiligt sind, halten Sie inne und betrachten Sie die Situation mit einem Augenzwinkern. Vielleicht ist es nur ein weiteres Kapitel im Buch der urbanen Kuriositäten, eine amüsante Anekdote, die Sie später Ihren Freunden erzählen können – mit Smartphone und Ohrstöpsel. Denn seien wir ehrlich: Wer hat nicht schon einmal in Gedanken mit sich selbst gesprochen, während er durch die Straßen schlenderte? Die unsichtbaren Kopfhörer sind da dann auch schon fast wie eine Tarnung.

Autor Katja Bauroth liebt Begegnungen und Storys - im Lokalen und auf Reisen.

VG WORT Zählmarke